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Heidelberg d. 8 Aug. 1817.

Wie hat mich der gestrige Brief meiner Mutter entzückt! Das muß ich Ihnen wenigstens sagen, vortreflicher Mann; denn von meinen Eltern hab' ich auf eine Zeitlang die Spur verloren . Ich weiß nicht, soll ich sie in Nennhausen bei Fouqué suchen, oder in Altenburg, oder wo sonst? Wahrscheinlich wird erst ein Rudolst. ein Brief von mir sie treffen; aber ich werde nicht aufhören, Briefe an Abraham zu schreiben, der doch vielleicht noch früher einen befördert. O wie glücklich sind die Eltern bei Ihnen gewesen! Das schreibt die Mutter, und noch besser, man fühlt es in jeder Zeile ihres Briefs , auch wo sie es nicht schreibt. Ich war vor der Reise sehr bange, und viele außer mir warens, die theure Mutter würde die Reise nicht ertragen. Schon der kecke Brief aus Göttingen beruhigte uns, und jezt sind wir fester überzeugt, sie wird lebensfroher und gesünder wiederkehren, als sie abreiste. [...] Daß Sie, theurer Overbeck, mich zum Theilnehmer Ihrer Freude gewünscht haben, dafür dankt Ihnen mein ganzes Herz. Ja, ich komm' Ihnen gewiß einmal. [...] – Ich schreibe diesen Brief in Jean Pauls Gegenwart, und doch einige tausend Schritte ferne von ihm: der [...] dolle Dollandsche Tubus nehmlich holt ihn mir von einer schönen Anhöhe herbei; wo er an eine die Mauer gelehnt eines Gartenhäuschens gelehnt die [...] Natur betrachtet, und Anstalt macht, sich auf eine Holzbank zum Schreiben niederzusezen. Das thut er alle Morgen von 8–1 Uhr, wenn das Wetter gut ist. In solcher Gesellschaft, was soll ich andres schreiben, als von ihm? Ich wollte, Sie sähen diesem Mann einmal in sein seelenvolles Auge, fühlten seinen kräftigen Händedruck, hörten den bezaubernden Ton seiner unendlich freundlichen und melodischen Stimme: wahrlich, es ging en e Ihnen, wie uns allen, Sie kämen nicht los von ihm.

He is one

The truest manner’d; such a holy witch,
That he enchants societies anto him.
Half all men’s hearts ar his.

Shaksp. Cymbel.

Und so verdenk’ ichs denn den Heidelbergern nicht (mich selbst mit eingerechnet), daß wir sämtlich verliebt in ihn sind. Aber, wie Schiller, sagt, "die schönen Tage von Aranjuez sind jezt vorüber" . Morgen reist er, kommt zwar noch auf einige Tage zurück, aber der beste Genuß ist hin. Nun muß uns der Nachgenuß treuer Erinnerung erquicken. Mir ist heute, wie oft in schönen Morgenträumen, wenn das Gefühl baldigen Erwachens sich einstellt: noch stehn sie vor uns, die reizenden Gestalten; man strengt sich an, sie festzuhalten, und mit einemmal sind sie verweht. Da seh' ich durch den Tubus: er sieht unendlich heiter aus. Welch ein Gedanke mag ihm jezt aus der Feder strömen? gewiß ein guter; die Miene bezeugts. Er schreibt, wie er mir gestern sagte, an einer Vorrede zum neuen Quintus Fixlein , in der er sich als Doctor ankündigen will. Sollte die ihn beschäftigen? Alle Wetter, ja! nun seh' ichs erst; er sieht gar nicht aus, wie ein erbärmlicher Hildburghäuser Legazionsrath, sondern keck und stolz, und in die Brust geworfen, kurz wie ein Heidelberger Doctorsmann. Nun steht er auf, spaziert umher, jezt langsam, jezt hastig, nun reibt er sich die Stirn; ein Gedanke scheint nicht flott werden zu wollen. Ich muß einmal eine Pistole abschießen. – Ja, das hat geholfen; er sizt wieder, und schreibt wie das Donnerwetter! Daß er aber so belauscht wird, ahnet er nicht. Ich muß Ihnen eins erzählen. Das vorlezte Mal, als wir bei Frau von Ende aßen, waren wir sehr vergnügt, Jean Paul bis zur Ausgelassenheit. Da sprach er, grade wie das erstemal, von seiner Frau, von seinen Kindern, daß ihm die Thränen über die Backen rollten. "Ja", sagte er, "wenn meine Emma so um mich herumschmeichelt, und und oder der Bube sich mir aufs Knie sezt, und den Mund zum Küssen sucht, dann scheere ich mich weder um Gott, noch um Unsterblichkeit". Die lezten Worte, die Bezug hatten auf ein frühres Gespräch fängt ein Bedienter auf, der sehr beschränkt ist, und sehr religiös erzogen. Er grübelt viele Tage darüber, und die Kammerjungfer mit ihm, wie Jean Paul so sprechen und doch ein guter Christ sein könne. Endlich gestern Morgen bittet er seine gnädige Frau, ihm diesen Zweifelsknoten zu lösen. "Denn", sagt er, "ein guter Christ muß er doch sein, sonst liebten Sie, und der |2 Herr Kirchenrath Schwarz ihn nicht so, und der Professor Voß auch nicht, der doch immer Arm in Arm mit ihm spazieren geht." Frau von Ende, eine sehr gewandte Frau, erklärt ihm nun in einer verständlichern Sprache das Unschuldige des Worts im Zusammenhange, und bedeutet ihm, wie frohe und gesellige Laune auch einmal ein Wort zu viel sagen dürfe. Der Bediente ist vollkommen beruhigt, und beruhigt wieder die Kammerjungfer. Dies erzählte uns Frau von Ende, wie wir gestern wieder bei ihr versammelt waren, und wir lachten herzlich. "Aber eine sehr ernsthafte Seite ist dabei", sagte Jean Paul. "Erstlich, wie rührt mich die Treue des Menschen, der alles aufbietet, um nur nicht den Glauben an einen Menschen aufzugeben, den er für brav gehalten!" Und herlich, wie immer, sprach er über diesen Gegenstand. "Zweitens aber", sagte er, "hab' ich arg gefehlt, daß ich mich eines so gemeinen Ausdrucks bediente bei heiligen Dingen, und nicht bedachte, daß einer zugegen war, den es ärgern könnte. Das soll mir eine Lebensregel sein. Wer auch nur Einen ärgert, und wer es sei, der hat Schuld auf dem Gewissen". Ich wollte, verehrter Mann, Sie wären zugegen gewesen; er wäre Ihnen größer vorgekommen als Göthe, der vollkommen zufrieden ist, wenn er nur sich nicht ärgert. Ein andresmal sagte er mir: "wohl ein Folioband von Schlüpfrichkeiten ist mir in meinem Leben durch den Kopf gefahren; und es konnte nicht anders sein, da ich so vieles gelesen, combinirt, und zugleich nicht ganz oberflächlich in die Anatomie und Naturgeschichte geschaut habe; aber zeige mir Eine Stelle der Art in meinen Schriften; mit meinem Blut will ich sie abwaschen". Und wahrlich er hat Recht. Wie er dereinst in der Todesstunde auch fühlen mag über den ästhetischen Gehalt seiner Werke, mit dem Bewußtsein kann er hinüberschlummern, ein kräftiger Streiter für die reinste Sittlichkeit gewesen zu sein. Man braucht ihm auch nur in das schöne, durchaus biedre und redliche Antliz zu schaun, um zu wissen, daß in dem Tempel nichts Unlauteres [...] wohnen kann. Preisen Sie mich glücklich, theuerster Overbeck, daß ich diesem Mann auf der Lebensbahn begegnet bin. Er hat mich ihm sehr nahe gestellt, näher als irgend einen in Heidelberg; aber es macht mich nicht übermütig. Im Gegentheil, ich fühle mich nie mehr zur Demut gestimmt als in seiner Gegenwart; und das eben ist das herliche an ihm, sein Wort entzündet zum Besserwerden. Man möchte sich in seiner Nähe einen Feind wünschen, um die Wollust zu haben, ihm von Herzensgrunde zu vergeben. Ich nenn' ihn drum auch [...] am liebsten – den guten Jean Paul. Ach! daß meine Eltern den nicht kennen lernten, ihn, der so gerne von ihnen, zumal von der herrlichen Mutter, erzählen hört! – Auch arge Abgöttereien treiben wir Heidelberger mit ihm doch hier nehm' ich mich aus. Hören Sie nur. Studenten und Filister tragen sämtlich eine Nelke im linken Knopfloch, weil e E r sie trägt; und fast ist keine Nelke mehr zu haben. Nach seinem Hunde Alert (v –) sind schon siebenundzwanzig Hündlein genannt, die noch an der Mutterbrust liegen, und etwa 7 Hunde umgetauft. Auch ein Käzchen ist schon Alertchen getauft. Wenn erst ruchbar wird, daß Alert funfzehn Jahr alt ist, so wird keiner einen Hund haben wollen, der jünger ist. Ich erzählte Jean Paul neulich, man habe irgendwo seinen Hund eingehascht, ihm Haare abgeschnitten, und davon nach Manheim geschickt. "Nun, was will der Hund?" sagte er, "gehts denn mir besser? Kuck mal her: da fehlt eine Locke, und da, und da. Es ist gar keine Symmetrie mehr auf meinem Kopf. ..... Das muß der liebe Gott in Baireut all wieder in Ordnung bringen; denn da lassen sie mich ungeschoren". – Als ich Jean Paul zu Emilie Heins brachte, fing eine |3 Frau Pfarrerin sogleich an, ein J. P. in ihren Strumpf zu stricken. Mit hohem Pathos zeigte sie mir das Werk; und mit welchen Gefühlen wird sie nicht den Strumpf anziehn, der in des größten Mannes Gegenwart sein Dasein empfing! Eine andre hob eine verbogene Stecknadel auf, die Jean Paul fallen lies, und umwickelte sie zierlich mit Papier. Jezt hat sie ein seidenes Küssen verfertigt, worauf die Nadel einsam steckt, denn sie ist die Königin der Nadeln. – Eine Frau von Lammzahn, an der der Zahn der Zeit schon ziemlich nagt, und die noch immer nicht Lust hat, zur Lammsunschuld zurückzukehren, gab sich beim Auseinandergehn einer Gesellschaft erstaunlich Mühe, einen Kuß von J. P. zu bekommen. Es gelang nicht. Nun hängte sie sich Jean Paul a m n den Arm, und sezte durch, wie sehr ich dagegen stritt, daß sie Jean Paul ihn nach Hause begleitete. Vor seinem Quartiert, wie der Bliz, fuhr sie ihm um den Hals, und küßte ihn, daß, wie Shakspear sagt, die Kirchenmauer wiederhallte. Als wir nachher das Ding bei Lichte besahn – nehmlich beim Lichte des Kellners im goldnen Hecht – hatte sie ihm eine Portion Schminke in die Backe gedrückt. Das nennt die Noblesse hier platonische Liebe, ein schönes herzergreifendes Wort! An der Frau von Lammzahn rächte ich mich, daß ich sie einen unsäglich langen Weg allein zurückgehn lies, und in ehrbarer Ferne nachfolgte, nachdem ich Jean Paul am Brunnen die Schminke abgewaschen hatte. – Jean Paul hat unterdeß, wie mein treuer Tubus sagt, zwei Oktavblätter voll geschrieben. –

Mancher Fremde hat uns die Zeit über besucht, aber der Himmel weiß, wie es zugeht, es rührt uns keiner, und mancher ist darunter, der uns zu anderer Zeit liebenswürdig gedünkt hätte, z. B. der Hofrath Hirt aus Berlin. Nur Einer von [...] von ihnen behielt neben Jean Paul seinen vollen Glanz [...] – der General von Dörnberg. Er war grade hier, als wir Jean Paul zu Ehren einen akademischen Schmaus gaben, und er hatte die Güte, auch [...] zuzusagen , als ich ihn in des Prorektors Namen feierlich einlud. Was meine Mutter mir von Göttingen aus von des Mannes "wunderbarer Anziehungskraft" geschrieben , und ich vorher immer auf Jean Paul unwillkührlich angewandt hatte, fand ich vollkommen bestätigt. Auch hat meine Mutter Recht: "wie ziert des Mannes Heldengesicht die Thränen!" Und wer sah sie nicht, diese Thränen, da Dörnberg in jedem Heidelberger einen Wohltäter seiner Familie zu sehen glaubt? Als ich Dörnberg abholte, fand ich ihn sehr ergriffen und weich. Er hatte so eben der Confirmation seiner Kinder beigewohnt. Wir gingen schweigend eine große Strecke nebeneinander, denn stören wollt' ich ihn nicht in seinen Gefühlen. Da ergrif er mit Heftigkeit meine Hand, und bat mich, es der Gesellschaft deutlich zu machen, warum grade heut er ein stummer Gast sein müßte. "Ich weiß", sagte er, "es ist unmännlich, nicht über sein Gefühl Herr werden zu können; aber grade heut stürmt allzu viel auf mich ein. Ich sollte auch nicht in Gesellschaft gehn; aber es zieht mich hin, es ahnet mir, als ob ich Gelegenheit finden werde, den theuren Heidelbergern meinen Dank auszusprechen". Der Prorector hatte Jean Paul sich zur Rechten, Dörnberg sich zur Linken gesezt. Ich hatte durch des Prorectors Güte ein Plaz bekommen, wo ich mit beiden sprechen, und jedes Wort, das beide sprachen, vernehmen konnte. Nicht wahr, ein paar Gäste von seltener Würdigkeit! Jean Pauls Gesundheit ward |4 zuerst getrunken; dann brachte der Stadtdirektor die Gesundheit des Generals aus, feierlich und bescheiden. Als der Tusch verhallt war, erhub sich Dörnberg, einer der schönsten Männer die ich gesehn, mit einem Anstande, mit einer Stattlichkeit, mit einer Fürstlichkeit, die ich Ihnen gar nicht zu beschreiben weiß. Er sprach von sich und von seiner Familie, und von der harten Zeit der Noth, in der sie bei den Heidelbergern Schuz und Aufnahme gefunden. "Gott", sagte er, "hat die Noth geendet, und uns Getrennten wieder zusammengeführt. Und nun ist es einer der seligsten Augenblicke für mich, daß ich unter den theuren Heidelbergern stehn, und ihnen aus Herzensgrunde danken kann". Dies sprach er mit einer Kraft, mit einer Festigkeit, und doch zugleich so bewegt, so ergreifend, ja erschütternd innig, daß kein Auge trocken blieb. Sie hätten den Jubel hören sollen, mit der diese Anrede erwiedert ward. Nie vernahm ich dergleichen, selbst da nicht, als in Weimar bei der ersten Erscheinung der Großfürstin im Theater gesprochen ward:

Wo du beglückst bist du im Vaterlande

Vom Dörnberg kann man sagen, was Kent vom Lear: He looses authority, und mir war als ob ich Worte eines descended god vernähme. Dann sprach Jean Paul, halb weinend, halb lachend, eine Anrede – – aber hier verstumme ich absichtlich; denn jeder Versuch, sie herzusezen, würde alles verderben. Jean Paul u. Dörnberg zogen sich gewaltig an. Immer hatten sie die Hände zusammen, und küßten sich hinter des Prorectors (Zachariä) Rücken. Zu meiner Freude gingen wir diesmal früher auseinander, und gewiß jeder mit dem Gefühl, daß nicht Essen und Trinken, sondern eine heilige Freude uns versammelt hatte. Mein lezter Gedanke des Tages war: Warum konnten die lieben Eltern nicht zugegen sein?

Ich muß nun abbrechen; denn ließ' ich meiner Feder freien Lauf, sie schriebe in einem fort. Für meine Eltern wird dieser Brief nichts neues enthalten. Ich habe nehmlich einen großen Brief von 48 Seiten über Jean Paul geschrieben, einen Gesamtbrief, den erst Hans bekommen, dann mein herlicher Bettenburger, dann Abraham, dann die Jenenser, den können sie in Rudolstadt lesen. Es ist mir Bedürfnis, ein genossenes Gutes noch einmal in einer treuen Nachschilderung [...] zu genießen. Aber mehr als einmal, höchstens zweimal, dergleichen zu schreiben fällt mir schwer. Drum bitt' ich Sie, theurer Mann, schicken Sie diesen Brief an Heinrich Boie (in Ohsen bei Hameln, abzugeben bei Frau v. Grevemeyer). Vielleicht kommt dieser Brief in noch mehrere Hände (und es wäre mir ganz recht, des Inhaltes wegen, denn wie begierig hasch' ich selbst nach verbürgten Anekdoten von solchen Männern!); aber dann sei jeder recht herzlich gebeten, dafür zu sorgen, daß keine Zeile abgeschrieben werde. Auch dem großen Truchseßbriefe hab' ich die Bitte zugefügt. Sie ist in diesen Zeiten nöthig, und ich selbst habe schon zum zweitenmal – was ich so gründlich hasse – vertrauliche Mittheilungen von mir in der eleganten Zeitung gedruckt gelesen . Leben Sie wohl, theurer Freund meiner Eltern, den ich mit Stolz auch den meinigen nenne. Grüße Sie all die Ihrigen

von Ihrem

Heinrich Voß.

Zitierhinweis

Von Heinrich Voß an Christian Adolf Overbeck. Heidelberg, 8. August 1817, Freitag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1689


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Textgrundlage

H: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, N. Bäte, 1,9
1 Dbl. 4°, 4 S.

Überlieferung

D: Bäte, Kranz um Jean Paul, S. 29-38.