Von Jaques Henry Thieriot an Paul Emile Thieriot. Leipzig, 16. Juli 1802, Freitag

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Leipzig den 16.ten Juli 1802

Wenn das feindselige Schicksal einen Meisterstreich machen wollt, so müßt' es einen Menschen sein Leben lang mit ausgesuchten Qualen verfolgen, und ihm plötzlich alles geben was sein Herz begehrte und wollte der arme Gequälte sich freuen, ihn tödten. Beynahe so wars! – Was hat nicht unsre gute Schwester zu dulden gehabt auf dieser elenden Erde? Seit ihrer Kindheit selbst krank oder Krankenwärterin derer, die ihr am theuersten waren und die sie mußte begraben sehen. Endlich scheint es ausgestürmt zu haben, die Breter die sie aus dem Schifbruche retten scheinen sich in ein friedliches Hüttchen fügen zu wollen, und das Hüttchen ist – ein Sarg! –

Ja so ist es, die geliebte Schwester ist hin ! Hin für uns die wir ihr am nächsten w ä a ren, Bürgerin der bessern Welt der sie längst angehörte! O was empfindet mein Herz indem ich dies schreibe! Alle die schönen Pläne für die Zukunft sind hin, und eine Fülle von Seligkeit mit.

Wer giebt mir diese reine Engelgute Seele zurück, die nur im Glück ihrer Liebe lebte und wie eine gute Gottheit geschäftig war es zu gründen und zu halten an 1000 unsichtbaren Fäden! – Länder kann man durchsuchen und findet es nicht wieder, wie sollt' es mir Armen zu Theil werden? Warum müssen alle die hin, die ich von Herzen lieb habe? Einer nach dem andern geht hin, ich fühle mich allein und sehne mich hin wo sie schlafen. O schlief auch ich einst ein und erwachte nicht wieder! Doch dieser Gnade bin ich nicht werth, ich muß mich erst durchwürgen. Laß Dir erzählen wie es zugegangen ist: Sie wollte die |2 vorige Woche auf dem Bade bei den Tanten zubringen, thats auch, und schrieb mir noch vom vorigen Freytage (heute vor 8 Tagen) daß sie sich sehr wohl befinde. Der Brief athmete wie alle die vorigen die innigste Heiterkeit. Am Sonnabend wollte sie die Tante vom Bade abholen, fand sie aber etwas unpäßlich, und nahm daher einen Wagen um sie auf den Weinberg zurückzufahren. Dort hielt sie sich den Sonntag ruhig und war am Montag ganz hergestellt, aß mit am Tische, gieng Nachmittags mit den Mädchen im Garten spazieren und fühlte sich nur gegen Abend durch einen mäßigen Husten beschwert, der aber doch durch ein paar Tassen Thee beruhigt wurde, so das sie sich um 9 Uhr ganz erleichtert und wohl zu Bett legte. Aus Vorsicht wachte jedoch Emilie bis um 2 Uhr des Morgens, und dann die Rosine .

Beyde versichern daß die Theure ununterbrochen sanft geschlafen haben, und selig entschlief sie früh um 6 Uhr, ohne zu Erwachen, still und ohne Klage, wie ihr schönes Leben war ihr schöner Tod. Ein wohlthätiger Schlagfluß wars der sich um die Angeln der finstern Pforte wand daß sie ihr Knarren nicht hörte! Wohl ihr! –

Ich klagte über das Schicksal und vergaß es zu preisen, denn wahrlich dieser Tod war der schönste Lohn der Tugend. Kein bitterer Vorschmack, selbst keine Ahnung, kein Abschied, kein Ringen der Kraft des Lebens mit der negativen und doch stärkern des Todes, wer sollte solch einen Tod nicht als einen Retter umfangen? Dies ist die Auflösung |3 die wir mit Andacht wünschen sollten! –

Aus dieser Verwehung blüht der Glaube an Unsterblichkeit lieblicher auf, denn sonst stell ich mich keck auf ihr frisches Grab und ruf' es in die Wolken: sie ward umsonst geneckt!

Doch nein, es ist nicht möglich, der große Schöpfungsplan kann nicht Freyheitsfassenden Wehen Spielraum geben nur um Kirchhöfe mit ihnen zu düngen. Das wär nicht höchste Freyheit, deren Ahnung das Göttliche in uns ist, nur höchste Willkühr wär es, doch:
Ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt
Wie auch der menschliche wanke
Hoch über der Zeit u. dem Raume W w ebt
Lebendig der höchste Gedanke!

Es währt nicht ewig, sey unser Trost beym Blick auf die Erde, Es währt ewig, bey innern Anschaun des Unendlichen

Gräme Dich nicht zu sehr, und denke daß Du noch einen Bruder hast ders herzlich meint und Dich lieb hat.

Jaques

Zitierhinweis

Von Jaques Henry Thieriot an Paul Emile Thieriot. Leipzig, 16. Juli 1802, Freitag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1444


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Textgrundlage

H: BJK, Berlin V, 243
1 Dbl. 4°, 2⅔ S. Auf S. 4 Adr.: Monsieur Paul Thieriot | á | Paris.