Von Jean Paul an Caroline Richter. Stuttgart, 8. Juni 〈Dienstags〉 1819.
Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.
265,10
Gestern abends, meine gute Karoline, kam ich an. Nur einige
historische Worte, da der Kutscher auf sie wartet. Von Dünckelsbühl
hab’ ich dir vorgestern geschrieben. Der ganze böse
Anfang dieser
Reise gleicht meiner Frankfurter; ich hoffe
also, daß auch die Fort-
265,15
setzung ihr ähnlich wird.
Auch hier bin ich im größten, aber darum
ungemüthlichen
Gasthofe wie dort abgestiegen. Noch hab ich nie-
mand gesprochen als gestern am Tische
Haug. Benzel Sternau ist
nicht hier. — Einen artigen Reisenachmittag hatt’ ich
vorgestern,
wo ein fortregnendes Gewitter mit mir ging
und ich den vortreff265,20
lichen
Kutscher statt des Pudels zu mir in den Wagen nahm; die
Pferde schlichen kaum, waren aber nicht mit hinein zu nehmen. —
Nur wenige Stellen der würtenbergischen Landschaft
bestehen matt
neben Nürnberg, Bamberg, oder gar Frankfurt; die
Menschen
sind nicht viel schöner, einige Männer ausgenommen, die
mir mit265,25
etwa 50 Wagen voll Betten und Familien
entgegen fuhren nach
— Pohlen. Hier und in allen Städten
sind wenig Menschen und
keine Lebhaftigkeit; aber Gutherzigkeit ist überall. —
Jetzo geh ich
zu Cotta; darauf
werd’ ich mich entschließen können, wie und ob
ich mich einmiethe; denn in diesem Zimmer könnt’ ich,
obgleich der
265,30
Prinz von Koburg es für mich eingeweiht und ich
das schönste
Exerzieren und Pauken schon um 5 Uhr Morgens sehen und
genießen
kann, keinen Tag verleben. Alles wie in
Frankfurt, wenn auch in
kleinerem Maßstabe. — Beziehe ja die geweißte Stube
nicht eher
als bis der Kalkgeruch verflogen. — Gar zu
viel gabst du mir mit,266,1
liebes Herz; und hier war mir immer
wie bei dem Abendmal das
körperliche Essen ein geistiges
und ein Liebemal. — Ich küsse meine
lieben Kinderlein. —
Schreibe mir recht viel; aber schicke keine
Briefe nach, nur die Inhaltanzeige. — Eben hör’ ich, daß
Cotta
266,5
erst Ende der Woche von seinem Landgute zurück
kehrt. — Blos
die stundenlange Einfahrt unter Alleen und zwischen
Gärten von
Kannstadt in die Residenz ist eine der
schönsten. Ich schreibe alles
durch einander, in lauter Angst der Störung. Wäre nur
schon
meine heutige Umquartierung vorbei. — Es werden
jetzo viele Ge266,10
witter kommen;
hüte ja wegen Feuer die Schlüssel. — Grüße O[tto]
und E[manuel]. — Und so lebe
denn froh, liebe treugeliebte Seele.
Ich habe den Brief wieder aufgemacht. Cotta mit seiner
ganzen
Familie ist auf sein Landgut bis Montags verreiset.
Einen Brief
266,15
an mich (von Voß
wahrscheinlich) hat er nach Baireut gesandt;
schicke mir ihn ja nicht wieder her, sondern nur das
Bedeutendste des
Inhalts. — Bis diese neueste Minute
ist mir wenig geglückt, von
der ältesten an.
[* auf besonderem Blatt ] 266,20
... und so will ich denn einige Reiseleiden rekapitulieren, um mir
die Gegenwart zu verklären. Auf den Bergen Streitbergs
riß
zweimal der Strang; in Wüstenstein wurde ich in eine
Stuben-
kammer neben einer lauten Stube voll
Kaufleute gesteckt. Die Nacht
in Erlangen brachte Nachttoben der Studenten,
Kanonieren, Heim-
266,25
kommen vom Schützenberge. Der
Hund murrt bei jedem Vorüber-
gehenden — der Nachtwächter tutet die
Stunden und die Viertel
stunden —
darauf ein Getön, als wenn eine Kuh nach ihrem Kalbe
schrie; dann, da es immer fortging, hielt ichs für den Ton eines un
bekannten Maschinenwerks; endlich
errieth ich, daß es ein abscheu266,30
liches Schnarchen war. Vom Anspacher Gastviehhof will ich gar
nicht sprechen; eine Kammer im zweiten Stockwerk, voller
Gebälk,
mit einem elenden Bett und zwei Stühlen
(weiter nichts) war die
von E[nzel]
gerühmte Pracht. — Dafür gab mir der frühe Reise-
morgen das schöne Gefühl der eignen
Jugend zurück. —266,35
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Caroline Richter. Stuttgart, 8. Juni 〈Dienstags〉 1819. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_528
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP (nur bis 266, 19). 2⅓ S. 4°; 4. S. Adr.: Frau Legazionräthin Richter in Baireut. J 1: Wahrheit 8,177×. J 2: Nerrlich Nr. 169×. A: IV. Abt., VII, Nr. 188. 265,23 Landschaft] davor gestr. Gegend matt] nachtr. 29 und ob] nachtr. 33 keinen] davor gestr. bleib’ ich 266, 2 immer] aus jedesmal
Jean Paul war in Stuttgart im Gasthaus zum König von England abgestiegen, s. 267, 12. 265, 18 Haug: s. Nr. 551† . Benzel-Sternau: s. Bd. VI, Nr. 691. 31 Prinz von Koburg: wohl Leopold, der spätere König von Belgien (1790—1865); vgl. I. Abt., XVII, 448, 24. 266, 15f. Der Brief war aus Heidelberg, aber nicht von Voß, sondern von Jung, s. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 180. 20—35 Dieser nur in J 1 erhaltene Absatz stand wahrscheinlich auf einem nur für Karoline bestimmten Extrablatt, das aber noch mehr enthalten haben muß, vgl. A: „Dein besonderes Blatt an mich habe ich mit dankbarer Rührung gelesen, daß Du doch noch die Güte für mich hast, mich aufrichten zu wollen.“ Das Erhaltene erinnert stark an die „Reiseleiden“ des Frohauf Süptitz im Kometen, I. Abt., XV, 427ff. 24 ff. Nach Feststellung von Horst Heldmann (Nürnberg) logierte Jean Paul damals in Erlangen im Gasthof zur Blauen Glocke (jetzt Haupt str. 46). Mit dem Schützenberg ist wahrscheinlich der Burgberg gemeint, wo zu Pfingsten die altberühmte Bergkirchweih gefeiert wurde.