Von Jean Paul an Caroline Richter. München, 13. Juni 1820 bis 14. Juni 1820.
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38,24
Meine Karoline! Heute erst erhielt ich deinen so lange und sehnlich
erwarteten Brief vom Freitage. Schicke nie an Tagen, die
ich auf der
Postkarte ausgestrichen, Briefe ab, weil da
blos die fahrende Post sie
mitnimmt. — Im ganzen Jahre hab’ ich nicht so verdrießliche Tage
gehabt als die Mehrzahl meiner hiesigen gewesen. Den
blauen Himmel38,30
ersetzt mir keine Stubendecke. Rundum
gäb’ es schöne Dörfer und Plätze,
wenn man hinkönnte.
Außerdem vergällt der Regen das Ausgehen; —
und das
Staatsvolk oder Münchnervolk ist, wie ich vorausgesagt, kein
Frankfurter oder Stuttgarter Verein für Autoren. Zum
Glücke wurde
39,1
mir am vorvorigen Sonntage (den 4ten), ehe ich meinen Brief ab
geschickt, einiger Trost über das
Naßwetter durch ein Wagenumstürzen
zu Theil, oder vielmehr
der Regen versüßte mir die Brustschmerzen, weil
sie mich
doch von nichts als nur vom Ausgehen in schlechtem Wetter39,5
abhielten. Es stieß nämlich der Einspänner, der mich nach Nymphen-
burg zur Gräfin Taxis zum Anmelden bei
der auf einige Tage ab-
reisenden Königin fahren sollte, so an
einen herfahrenden eingeschlafnen
Kutscher an, daß die Deichsel zerbrach und mein Wagen um-
und ich an
Max fiel. Ich spürte den Fall anfangs etwas
stark, da nach dem
39,10
schweren Athmen die Lunge verletzt sein konnte —
und der gute Max
weinte bitterlich — aber ich errieth
bald, daß es nur Verletzung des
Rippenfells war, fuhr noch
nach Nymphenburg mit einer neuen Deichsel,
(fand aber die Gräfin nicht) und sprach abends in einer
Gesellschaft bei
Schlichtegroll bis 12 Uhr unter starken Schmerzen.
Angerathenes
39,15
Baden und Aderlassen gebraucht’ ich nicht, und ob
ich gleich mehre Tage
nach einem ½stündigen Gehen große
Schmerzen, zumal Nachts emp
fand, so
ist das Übel doch meistens fast ganz vorüber. Auch mein herr
licher Sömmering — nicht unweit von mir, der mich immer so gern zum
Disputieren hätte — bestätigte mich. — Hier will ich doch
gleich zur39,20
Königin zurück ... (Eben komm ich von
einer wie die Welden licht-
vollen Frau v. Venningen, Niece des Primas 〈Dalberg〉, her, wohin
mich die liebe Lukrezia auf Anrathen der Fr. v. Lochner,
der ich hier
dafür danke, gebracht.) Da der Hofprediger mich auf
Freitags, oder
Sonnabends oder Sonntags zum Erscheinen zwischen 12 und 1
geladen,39,25
so nahm ich natürlich den Freitag,
besann mich aber, da der König
wieder zurück war, daß man doch gescheuter zu ihm zuerst
ginge und
thats auch, obwol zur ungewöhnlichen Zeit um 12.
Bei ihm braucht
man nichts, von 7 Uhr an bis 10, als sich
zu melden durch den Kammer
diener.
Einen solchen weitoffnen, gutmüthigen, unbegehrlichen, an39,30
spruchlosen, hausväterlichen König
hab’ ich mir nie gedacht. Als ich
sagte: er sehe gesünder
aus als am Frohnleichnamfest, („am schönsten
einen König
zum ersten male bei einem religiösen Feste zu sehen, ein
knieender König predigt besser als ein aufrechter Prediger“), sprach er40,1
wie ein Protestant gegen die katholische Zeremonie etc.
etc. Sein Dank
an die Baireuter für die Aufnahme auf der Flucht — Sein
Gesicht ist
meinem ähnlich, hat aber noch weit mehr Reize. „Seine
Frau, sagt’ er,
habe meine Büste; ob ich sie gesehen etc.“ Hierauf ließ er
mich bei ihr an40,5
melden und ich
sah sie im Salon. Sie ist nicht schön, aber scharf
blickend, ruhig, ungeziert, ohne allen Stolz. Ich sollte
das Alter meiner
Kinder nennen — langes Gespräch über
Verlobung mit der Feuchters-
leben, deren Namen ich nicht sogleich
wußte, bis die Taxis ihn brachte —
über Weimar, Herder und Adelbert Herder, der sie mit
Briefen ver-
40,10
folgt — über Sand — ich pries
den König, daß er, so wie Licht zuerst
geschaffen wurde und darauf alles von selber entstand, zu
Baiern gesagt:
es werde Licht — Leider liest sie auch meine
„Chrestomathie“ wogegen
ich sprach. — Vieles mündlich! —
Noch sah ich ihre schönen Kinder
nicht. Er und sie geben keine besondere Hoftafel, sie
essen blos an ihrem40,15
Familientische; folglich hab’
ich wenig Aussicht zu öfterem Sehen. Du
dachtest dir
überhaupt die Umgänglichkeit mit einem königlichen Hofe
zu
sehr nach dem Maßstabe der kleinen Höfe. — Schmidt, der
Hof-
prediger, dessen Hofäußeres mich
nicht sehr einnimmt, hat mich mit
Schlichtegroll auf 1 Tag nach Nymphenburg geladen; aber
es kommt
40,20
auf Wolken und Muße an, so wie auch bei dem
Stahrenbergersee, zu
welchem H. v. Mann (welchem
nebst Schlichtegroll ich die meisten
Verbindlichkeiten habe) mich auf sein Gut bringen
[will]. Sein treff
licher Sohn macht der Mutter Ehre und
dem Vater Freude. — Der
guten Renate sieht man die Jahre, und vollends deren
Schmerzen sehr
40,25
an; Otto aber erscheint desto kräftiger und ist
wie immer, höchst dienst-
fertig. Ein Aufsatz von ihm über den
Handel, im Gewerbeblatt, ist sehr
gut geschrieben. Ich bring ihn mit. —
Gestern war Bahrt endlich bei mir. Meine Karte mit der Wohngasse
40,30
war verlegt, wie bei Lerchenfeld, der mich nun zu
seinen Männerabenden
bitten ließ. Morgen bin ich zur Venningen auf ein Mittagessen um 4 Uhr
eingeladen, welche Zeit mir mit einem vornehmen Zirkel
droht. Aber die
höhere Welt, die mir hier so wenig gefällt
als der Mann der Venningen,
soll mich mit ihren Strudeln nicht aus den gelehrten
Zirkeln um mich40,35
her wegziehen; leider nur war der
herrliche Roth aus diesen verreiset. —
Mehre ganze Tage war ich schon zu Hause; und dieß war
dem wunden41,1
Rippenfelle recht gesund; nur stören die
Morgen-Besuche so abscheulich
und doch so schön wie der von Sömmering. Dabei liegen die Tische voll
Bücher aus der Bibliothek und von Sömmering zum
Exzerpieren —
Die unorganischen Merkwürdigkeiten, die Parkplätze, die
Gemälde, die
41,5
Glyptothek etc. hab ich auch noch nicht gesehen. Ich
brauche so viel Zeit,
daß ich nicht oft in das drei Stunden wegfressende Theater
gehen werde.
— Und doch schreib’ ich dir, liebe Karoline, Briefe, die
viermal stärker
sind als deine. Warum bist du so geizig mit
Nachrichten, z. B. über deine
Geldsachen in Berlin? Nur einiges zur Antwort auf dein Sedez-Brief-
41,10
chen! Ich fragte nur aus
Besorgnis der Dieberei über den Wein; denn
nur 1
Kapweinflasche fand ich, sonst lauter Franzwein; hattest du mehr
eingepackt, so ists gestohlen worden. — Mein Mantel
schützte mich
trefflich gegen die Kälte und das Abnützen
des guten Überrocks wäre un
nütz
gewesen; du nimmst nur, wie immer, meinen Scherz zu ernst. —41,15
Der seidne Schlafrock ist hier bei dieser Kälte und bei
seiner Schönheit
nicht mit Geld zu bezahlen; daher bekam
ich ihn auch wirklich geschenkt.
— Lasse mir jetzo, da (hoff’ ich) das alte Bier getrunken ist, neues
zu-
gleich recht bitteres und helles Bier abziehen; es wird dir
doch noch
jemand anderes als mein unerkenntlicher Bruder
rathen können. —
41,20
Du könntest dich auch vor die Brief-Koffer setzen
und mit Be[i]hülfe
Odiliens, welche die kleinen Blättchen bei Seite würfe,
unter den Folio-
briefen die berlinischen
Pensiondekrete aussuchen. — Von unserem
Max, der auch den von der Barner
gebrachten Kaffée ablieferte, hab
ich dir an unsern Abendnachtischgesprächen, worauf ich
mich kindisch41,25
freue, noch viel Rührendes zu
erzählen. Ende Augusts kommt er mit
Welden nach Baireut und muß wol
1 Monat bei uns bleiben. —
[
dick ausgestrichen: Emma soll mir lieber nicht
schreiben als so
flüchtig, so schlecht
das folgende unleserlich
] Lehrst du ihnen denn
noch das
Französische jeden Morgen? — Molento soll sie gar nicht
mit
41,30
poetischen Aufsätzen martern. Das Schreiben lehrt
sich durch Lesen, und
Emma könnte leichter seine — Lehrerin hier sein; nur den
vergeßnen
Unterschied zwischen das und daß erlerne sie wieder. — Grüße
Otto’s,
Emanuel’s, die Welden, Lochner, Vitzthum und wer dir
jetzo die meiste
Freude macht. — Über dein so künstliches und mühsames
Einpacken41,35
bin ich dankbar erstaunt. — Hätt’ ich
nur alles gesehen, damit ich nach42,1
Hause dürfte! Ohne Max
hätte mich das Heimatfieber sehr geschüttelt.
Jetzo kann mir das schönste Wetter den idealen Glanz einer
neuen Stadt
nicht ersetzen. Lebe wol!
Richter
Übersieh die Beilage nicht.
Täglich geh ich vor baireuter Retourkutschen vorbei. Wenn ich auch
jetzo noch nicht Zeit und Lust habe: könnt’ ich doch
einmal eine benutzen42,10
und — abfliegen. Sende mir
daher mit dem ersten sichern Kutscher ein
hölzernes
Kistchen mit 6 Flaschen Franzwein und 1 Krug Pomeranzen-
rosoglio sammt einem ordentlichen
Frachtbrief. Dann bin ich frei.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Caroline Richter. München, 13. Juni 1820 bis 14. Juni 1820. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_58
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 4 S. 4°. Beilage: Berlin JP. 1 S. (Zugehörigkeit durch A gesichert.) J 1: Wahrheit 8,247× (mit Einflechtung von Stellen aus dem Münchner Tagebuch). J 2: Nerrlich Nr. 190×. B: IV. Abt., VIII, Nr. 36 und 39. A: IV. Abt., VIII, Nr. 43. 38, 25 13] aus 14 39, 1 Verein] aus Männerverein 2 ehe] aus wo 7 auf einige Tage] aus bald 12 errieth] aus wußte 18 fast] aus oder 21 f. wie die Welden lichtvollen] aus treffl. 29 7] aus 8 36 sei] nachtr. 40, 4 Seine] aus Meine 8 Verlobung mit der] aus die 32 ließ] danach wo ich den Maler Cornelius kennen lernte, der die Glyptothek für den Kronprinzen ausmalt, eine Adlerstirne, unter der ein Adlerblick. J 1 (das Münchner Tagebuch verzeichnet nichts von dieser Begegnung; 43, 11f. sagt J. P., er sei nicht zu den Abenden bei Lerchenfeld gegangen; Ernst Förster, der ja ein Schüler und Freund von Cornelius war, muß diese Stelle anderswoher genommen, wenn nicht gar frei erfunden haben) 36 war] aus ist 41,2 gesund] hier folgen in J 1 Stellen aus dem Münchner Tagebuch v. 29. Mai. 12 hattest] aus hast 21 die Brief-Koffer] aus den Koffer
Mit einem Brief von Max an die Mutter von Mittwoch (14. Juni). 39, 7 Gräfin Taxis: wohl die Frau des Obersthofmeisters Maximilian Karl Heinrich von Thurn und Taxis (1745—1825). 22 Frau von Venningen: Anna, Tochter des Freiherrn Wolf Heribert von Dalberg (1778 bis 1842), seit 1805 verh. mit Friedrich Anton Freiherrn von Venningen (1765—1832), bayr. Kämmerer und Geh. Rat. 23 Lukrezia: Tochter der Frau von Lochner, Gattin des Präsidenten von Mann. 24 Hofprediger: Schmidt, s. Nr. 74†. 40, 3 Flucht des Königs: 1800 vor den Franzosen während des zweiten Koalitionskrieges. 5 Büste: von Hildebrant, vgl. Bd. VII, Nr. 154f. 8f. Karoline von Feuchtersleben, Jean Pauls ehemalige Verlobte, war am bayrischen Hofe bekannt durch ihre Mitwirkung bei der Verlobung und Verheiratung des Kronprinzen Ludwig mit der Prinzessin Therese von Hildburghausen; s. Jahrb. der Sammlung Kippenberg, 2. Bd., 1922, S. 145ff. 10 Über Adelbert Herder, den unglücklichen vierten Sohn des Dichters, der jahrelang mit den bayr. Behörden einen vergeblichen Kampf um sein Gut Stachesried führte, s. Peter von Gebhardt u. Hans Schauer, „J. G. Herder, seine Vorfahren und Nachkommen“ (1930), 1. Teil, S. 124ff. 13 Chrestomathie: „Jean Pauls Geist“ (1801ff.), s. Bibliogr. Nr. 395. 27 In dem damals in München erscheinenden „Kunst- und Gewerb-Blatt des polytechnischen Vereins im Königreich Bayern“ habe ich einen Aufsatz von Christoph Otto nicht gefunden. 41, 2 Morgen-Besuche: im Münchner Tagebuch nimmt sich J. P. vor, „gegen die Vormittagbesuche bei Gelehrten zu schreiben“; ein Entwurf dazu fand sich in seinem Nachlaß. 23 Pensiondekrete: vgl. 3, 12f.†. 24 Barner: vgl. Bd. VII, Nr. 577,303, 1. 30 Molento: Kantor Molendo in Bayreuth. 33 das und daß: vgl. Bd. VII, Nr. 534,276, 31f.† 34 Vitzthum: s. Bd. VII, zu Nr. 533.