Von Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Leipzig, 27. Mai 1781.
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9,5
Insonders Hochzuvererender Herr Pfarrer!
Sehen Dieselben, wie ich mein Versprechen halte? Kaum bin ich
etliche Tag’ in Leipzig: so bekommen Sie schon einen Brief. Er wird
eben nicht viel interessantes enthalten, und ziemlich mager sein —
aber 9,10
genug, wenn er mir nur bald das Vergnügen zu wege
bringt, einen
von Ihnen lesen zu können. — Der grosse Jurist
Hommel wurde den
Sontag begraben: er hinterlies ein Vermögen von 3 bis 4 Tonnen
Golds. — Der Magister Kirsch von Hof, der mit
[mir] in Geselschaft
nach Leipzig reiste, erzälte mir einen ziemlich scheinbaren
Einwurf vom
9,15
D. Ernesti gegen die Autentizität der Apokalyps — diesen
nämlich.
An einem Orte der Apokalyps, ich weis nicht mer wo, steht: die Stadt
die geistlich genant wird
Jerusalem. Dieses Wort geistlich,
πνευματικως wird hier in einem Verstande gebraucht, der den
Schrift
stellern des N. T. und sogar den
Kirchenvätern und Skribenten des
9,20
ersten Jarhunderts nicht gewönlich war. Dies Wort wurd’
erst dan
in einem solchen Sinne genommen, da man anfieng zu
allegorisiren, zu
deuteln, und in iedem Worte der Bibel eine
Anspielung auf etwas
überirdisches zu finden. Weil also dieses Wort in diesem
Jarhunderte
nicht in diesem Sin gebraucht wurde; so kan ich
schliessen, daß auch die9,25
Apokalyps nicht in diesem
Jarhundert verfertigt worden ist. Einige
Stärke scheint dieser
Einwurf zu haben; nur ist’s zu viel gewagt, aus
einem einzigen
Wort viel schliessen zu wollen. — Wenn Lokke aus
dem Spruch Matt. 25. viel für sein System glaubt beweisen zu
können: so irt er sich. Er beweist gerade wider den Lokke, und
ist höch9,30
stens ein argumentum bilaterum. „Gehet in’s ewige Leben, und
gehet in die ewige Pein“ — hier sagt er mus „Pein“
Vernichtung
und Tod heissen, weil beide Dinge hier einander
entgegengesezt werden,
Leben und Pein aber nicht
entgegengesezt werden können; da sie
heterogen sind. Allein hier
kan man antworten: eben wenn Pein eine9,35
Vernichtung bedeuten sol, so müst’ es Tod und Vernichtung hier 10,1
heissen: denn nur Tod kan dem Leben entgegengesezt werden —
es
müste heissen, gehet in’s ewige
Leben, und in den ewigen Tod.
Da’s aber hier nicht so ist, so kan man schliessen, daß Pein nicht Tod
heissen kan, sondern seine
eigentliche Bedeutung behält. — Das Wort 10,5
κολασις wird nie
in der Bedeutung des Todes gebraucht. Es komt von
κολαζω her,
castigo. Was hat aber die Idee, gegeiselt, gequält
werden irgend für eine Verbindung mit der Idee vernichtet werden? —
Im Gegensaz hat ζωη
nach einem Hebraism die Bedeutung von Glük
seligkeit. So wird 1 Sam. 25, 6. חיים in der
Bedeutung des Glük-
10,10
lichseins genommen. Es ist also
warscheinlich, daß ζωη auch in dieser
Stelle so genommen werde;
vorzüglich da sein Gegensaz „Pein“ deut
lich anzeigt, daß man’s so nemen mus. — Über Ihr Nichts,
wovon Sie
mir neulich sagten, hab’ ich nachgedacht. Der Gedank’
ist schön; die
Einbildungskraft verliert sich darinnen. Allein
ich glaub’ Ihnen beweisen10,15
zu können, daß es gar kein absolutes Nichts geben kan. Schon
in
dieser Rüksicht nicht: weil Got überal ist — und wenn wo ein
absolutes Nichts wäre, so würde Got nicht sein. Verstehen Sie’s
Nichts so: ein Ort, wo kein Körper
existirt; so wolt’ ich deutlich
beweisen, daß überal Körper sein müssen — und daß der Saz in der 10,20
Metaphysik „alles Ausgedente hat Gränzen“ so war nicht ist, als
es
scheint. Es komt auf Sie an, ob ich’s einmal tun sol. —
Nächstens werd’
ich Ihnen die Gegenanmerkungen zu Ihren
Anmerkungen überschikken.
Ich erwarte mit vieler Begierde Ihre
neuen Zusäzze. Meine Übungen
wollen Sie mir zurükschikken? Warlich! es verlonte des
Postporto’s nicht,10,25
daß
[!] man darum ausgäbe. Ich habe sie
onehin zweimal. Wenn sie
Ihnen nicht zu gering scheinen: so
gönnen Sie ihnen ein[en] Plaz in
Ihrem Hause, solt’ es auch im Auskericht verdorbner alter
Papiere sein.
Dem Lobe, das Sie mir beizulegen belieben, mag
ich nicht wider
sprechen: damit ich nicht in
den Verdacht komme, als tät’ ich’s, um es 10,30
zweimal zu
hören. — Mein gröstes Vergnügen hier in Leipzig wird der
Briefwechsel mit Ihnen ausmachen. Sein Sie mein Fürer, auf dem
Wege zur Warheit, und auf dem Wege zum Glük — leiten Sie den
Jüngling, der so leicht fallen kan. — Ihr Beifal wird mir
genug sein,
fleissig zu sein — und Ihr Tadel Sporn genug,
besser zu werden. Ich 10,35
bin Ihnen viel schuldig, ia
warlich ich bin Ihnen viel schuldig — es ist
mein Glük Sie
kennen gelernt zu haben. Dankbarkeit und Liebe ist
meine erste
Pflicht gegen Sie — und diese wird nie in dem auslöschen, 11,1
der
die Ere hat sich zu nennen
gehorsamster Diener
Leipzig den 27 Mai 1781 [Sonntag].
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Leipzig, 27. Mai 1781. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_8
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Brit. Museum. 3 S. 2°; auf der 4. S. Adresse wie zu Nr. 2, aber Franco statt p. expr. K (Konzept): An P[farrer] V[ogel]. J: Nachlaß 3,193. Vgl. Wahrheit 3,14 u. 111 (2. Mai). B: IV. Abt., I, Nr. 2. A: IV. Abt., I, Nr. 4. 9,14 Golds.] danach gestr. Das war [aus ist] ein Jurist, und mancher Geistliche hat kaum sich begraben zu lassen — ein Beweis, könt’ einer sagen, daß die Tugend nicht immer belont und das Laster nicht immer bestraft wird. K Magister] Rektor K mit bis 15 reiste] mit mir und dem Örtel nach Leipzig gereiset ist K 32f. Vernichtung und Tod heissen] vom Tode verstanden werden K 10,24 Zusäzze] danach zu meinen Übungen K 26 daß] so HK onehin] so K 27 gönnen] lassen K Plaz] Raum K 31 Mein bis zum Schluß] dafür Nichts aber zog mich mer an in Ihrem lezten Brief, als der warme Entusiasm, der aus demselben hervorleuchtet, und den Sie für iedes Schöne, iedes nur ex[istirende] Gute haben. — Sol ich alzeit meine Briefe an Sie nach Schwarzenbach übermachen; oder haben Sie Jemand in Hof, an den ich sie addressiren könte? Das lezte wäre besser. Ich erwarte gierig Dero Antwort. Nimmer werd’ ich aufhören zu sein etc. K
9,16 Joh. Aug. Ernesti (1707—81), Prof. der Theologie und Philologie in Leipzig. 17 Apokal. 11,8: „die Stadt, die da heißt geistlich Sodom und Ägypten“. 10, 29 Lob: Vogel hatte u. a. geschrieben: „Sie können noch dereinst mehr Verdienst um mich haben, als ich gegenwärtig um Sie gehabt habe. Heben Sie diese Weissagung auf.“