Edition
Korpus
Korrespondenz

Von Jean Paul an Renate Wirth. Neustadt an der Aisch, 7. Juli 1793.

Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.



Neustadt a. d. Aisch d. 7 Jul. 1793 [Sonntag].
391,11
Liebe Freundin,

Ich seze voraus, daß Sie meinen ersten Brief beantworten, und
zimmere schon den zweiten. Nur ist die Dinte so gelb wie ich — die
Husaren-Parade trabt neben mir — ihr montiertes Orchester trom391,15
petet neben mir — ich habe Kopfschmerzen und Zufriedenheit:
welche närrische Nachbarschaft für einen Menschen, der nach Hof
schreibt! …


d. 9ten Jul.

Während den Unterbrechungen meines Briefs kam Ihrer. Die 391,20
Seufzer eines schönen Herzens sind gleichsam der Athem und der
Aether für das meinige. Ich athmete Ihre Gedanken ein — aber es
sind ihrer so wenige und … kurz gerade so viel Wärme die meinigen
zuviel haben, so viel ziehen Sie den Ihrigen ab. — Ich danke Ihnen
noch für die Pünktlichkeit und für Ihre Gefälligkeit gegen meine 391,25
närrische Bitte.


Um meinen Brief an die Ottoin nicht zu wiederhohlen und um
meinen mündlichen Erzählungen etwas übrig zu lassen, flatter’ ich über
das meiste Historische hinweg.


Am Freitag giengen wir aus Baireuth, assen und sassen unterwegs 391,30
fünf Stunden und kamen doch abends in Bayersdorf (d. h. nach einem
Weg von 14 Stunden) an; und am Sonabend nachmittags in
Neustadt — Morgen (Mitwochs) fahren wir Nachts um 10 oder 11
oder 12 Uhr (um den Himmel so gut zu geniessen wie die Erde) nach
Erlang — sind am Sonabend und Sontag in Bayreuth und wahr- 392,1
scheinlich am Montage in Hof. — —

Mehr erzähl’ ich nicht — —

Das Schiksal hat uns so lieb gehabt, daß es fast lauter schöne
Gesichter stat der Meilenzeiger in unsern Weg hineingestelt. Durch die 392,5
Bambergischen Wiesen hätt’ ich mit ausgespanten Armen gehen
mögen, um sie sogleich an den schönsten Gestalten, die uns auf ihnen
begegneten, zuzumachen. Es war gerade abends — alle von der Sonne
getränkten Wolken überflossen ein stilles ebenes mehr mit Gärten als
Wäldern bekränztes Land — und die Erinnerung und die Hofnung 392,10
>standen wie zwei Sterne schimmernd über dem ganzen Gefilde. Ich
fragte jedes sanfte Mädgen, welches der rechte Weg wäre, und verlor
darüber einen andern rechten.


Und doch erstiegen wir auf dieser Himmelsleiter noch eine höhere
Sprosse, Neustadt nämlich. 392,15

Ein solcher Sontag wie der am 7. Jul. stand bisher nur in meinem
Kopfe, aber nicht im Kalender. Ich wil die vielen Leute nicht in meinen
Brief hereinthun, um die ich herumseze, noch ein schönes Frauen
zimmer, die eine ziemlich leserliche Abschrift von der Spangenbergin
ist — sondern ich wil den Sontag abends von 7 Uhr bis 11½ be392,20
schreiben.


Nein, ich lass’ es lieber bleiben. Dieser Zauberabend steht, wie ein
Blumenfeld, dunkel unter dem Wasser der Zeit und der Vergangenheit,
und ich kan vor Sehnsucht kaum hinuntersehen zu diesem unter
gesunknen Blumen-Boden. Ach dieser Boden trug schöne Minuten! 392,25
Im langen langen Garten eines gewissen Oertels, der unsertwegen
alles thäte und der unsertwegen Blasmusik und weibliche Geselschaft
bestelte, ist die Wiege und das Grab eines meiner schönsten Abende —
ein grosser Teich mit tausend Fröschen, Baum- und Blumenalleeen
und (was der gröste Reiz eines Gartens ist) die Nachbarschaft des392,30
selben, die im röthlichen Abendhimmel über kleinen Bergerhebungen
schwebenden Bäume hülten das Auge mit Blüten zu, damit die sanft
verdunkelte Seele schöner in ihre Träume falle — zwei weibliche
Schönheiten unter einem Schwalle anderer Personen kamen mit ihren
Eltern an — die eine, die schönste, schlug mit ihren Stralen und mit 392,35
ihren schwarzen Fackel-Augen wie eine Blizwolke in einen Menschen
ein, der sich durch Romane erhizt — (so viel Naivetät, Schönheit,
Unschuld und Wolwollen steht selten in einem Garten auf 2 Füsse 393,1
gestelt) — ich häkelte meinen Arm an sie ein, obgleich ein anderer
mänlicher da war, dessen Hand einmal der Ring an ihre löthet, und
ich wurde bald vertraut mit ihr und gieng den ganzen Abend mit ihr. …


Aber ihr schönen Stunden solt einmal an meinen Schreibtisch 393,5
treten und ich wil euch mit 〈samt〉 der Todtenfarbe der Vergangenheit
abzeichnen und aufs Papier — begraben, damit ich nicht ohne Denkmal
bin. …


O liebe Renate! ich dachte oft an Sie in jener Nacht — die Freude
des Menschen hienieden ist nichts als eine vergrösserte Sehnsucht — 393,10
ich sah an jedem Gebüsch die Johanniswürmgen wie Edelsteine
glimmend hängen, über dem Teiche stiegen sie wie Funken auf und ich
streuete diese lebendigen Sterne in das Haar der schönen Fusgängerin
— der Himmel ruhte entfernt über uns und unsern kleinen fliehenden
Freuden aus und dekte in seinen Sternen die grössern auf — in mir 393,15
war ein Streit zwischen dem Ohre und dem Auge, zwischen der Musik
und der Schönheit und ich hätte (so sonderbar es scheint) mich in eine
finstere Lauben-Ecke werfen mögen, um ungestört allen schönen
Phantasien — Tönen — Schimmerwürmgen — Sternen — und
Abendlüftgen um mich mein zitterndes Herz zu geben und zu sagen: 393,20
zerdrükt es zu Einer Freudenthräne!


— Meine liebe Renate! wir wollen uns lieben, eh wir uns trennen —
dieser Abend hat meinen Entschlus aus Hof zu gehen, unveränderlich
befestigt und beschleunigt — wenn wir uns an keinem Sonabend mehr
sehen, werden wir uns sehnen, aber vergeblich — wenn dein Herz 393,25
kein Echo mehr um sich findet, wird es oft mitten in der Freude sagen:
ach der es kante, ist fortgegangen. Wenn es nicht so sagte: so wär’ es
gar zu unglüklich. — Schreib mir wieder, Freundin! —


d. 10 Jul.

Gestern abends giengen wir alle wieder spazieren — ein ganzes 393,30
Bataillon — die schöne Christiana und ihre Schwester war wieder
dabei und ich lehrte jene die Bayreuther Art zu führen, zwei Stunden
lang. Wir waren bei ihren Eltern. Die dritte Schwester ist eben so
schön von der Natur ausgearbeitet. — Heute Nachts um 10 Uhr
(Mitwoch) fahren wir ab. — Vergeben Sie meiner Eile, die so gros 393,35
ist wie meine Schreibseligkeit, die Dinten-Muschen, das Ausstreichen
und die Wörter, die einander über den Köpfen stehen. — Ich bitte Sie
sehr, mir noch einmal zu schreiben und mir den Brief in Bayreuth 394,1
(unter der Adresse: abzugeben in der Sonne oder bei Mehringer) oder,
wärs zu spät, in Hof zukommen zu lassen.

Die Flotowin hielt mich leider für satirisch, wofür ich mich von
niemand unlieber als von Mädgen ansehen lasse. Aber was kan man 394,5
in der ersten Zusammenkunft und unter Müllers Augen anders
machen als Satiren? Das weibliche Geschlecht weis sich weder in den
Ernst noch in den Scherz des mänlichen zu schicken; es misversteht fast
alles, Komplimente ausgenommen; freilich giebt es noch klügere, die
um uns nicht zu misverstehen, uns — überhören und taub sind, um 394,10
nicht blind zu sein.


Wenn Sie jezt wieder (wie allemal) böse werden: so beweisen Sie
was ich sage — wenn Sie gut bleiben: so widerlegen Sie es.


Ich bin unter der Hofnung der Widerlegung — unter der Er
wartung der Antwort — unter der Freude auf unsere erste Wieder394,15
erblickung



Ihr
Freund
Richter

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Renate Wirth. Neustadt an der Aisch, 7. Juli 1793. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_435


Informationen zum Korpus | Erfassungsrichtlinien

XML/TEI-Dokument | XML-Schema

Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956. Briefnr.: 435. Seite(n): 391-394 (Brieftext) und 540-541 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin acc. ms. 1930. 83 (derzeit BJK); ehem. Kat. 54 Antiquariat V.A. Heck, Wien (1931), Nr. 256; 8 pagin. S. 4°. K (nach Nr. 433): Renata Neustadt an d. Aisch. d. 7 Jul. 93. i: Nachlaß 4,241. J: Täglichsbeck S. 47 (7. Juli 1794). B: IV. Abt., I, Nr. 144. 391,23 ihrer] nachtr. H kurz] danach gestr. was H 392,7 auf ihnen] aus darauf H 14 erstiegen] davor gestr. steht H 15 Sprosse] Stufe K 20 Sontags H 33 schöner] aus sanfter H 393,7 aufs — Papier begraben K 13 Fusgängerin] davor gestr. Nachb[arin] H 18 allen] danach gestr. den H 20 um mich] nachtr. H 30 wieder] danach gestr. mit H 31 und ihre Schwester] nachtr. H 32 jene] aus sie H 394,4 wofür] davor gestr. welches niemanden H 7 den] aus die danach gestr. Satire H 10 zu misverstehen] aus miszuverstehen H, miszuverstehen K 12 allemal] danach gestr. denn Sie H 14 Widerlegung] aus Wiederlegung K

391 , 20—24 Vgl. B: „Da der erste Theil Ihres Briefs so war wie Ihr Abschied, (doch Sie nahmen gar keinen) so werden Sie fühlen, welchen Eindruk der zweite auf mich machte — o, gewiß: ihr seid die schönsten Stunden meines Daseyns, wo ich mich mit Ihnen, Freund, über dieses schwüle Leben hinüber schwang, und mich vol der süssesten Hofnungen an einen Ort dachte, wo wir alle uns lieben werden, — und Alle glüklich sind.... Nichts ist wol mehr fähig, mich öfter traurig zu machen, als wenn mein Auge im Freien herumirrt, und die nämliche Empfindung erregt, die Sie mir gestern so lebhaft ausmalten, eine unbegreifliche Sehnsucht bemächtigt sich meiner, ah, seufze ich, vielleicht wärst du hinter jenen Horrizont unter bessern Menschen, die dich weniger verkennen, und mit Ihnen [!] in eine süsse Freundschaft verwebt; o, warum bleiben es ewige Wünsche.“ 392, 4—13 Vgl. die Schilderung der gleichen Wanderung in den Palingenesien, I. Abt., VII, 235,13—236,10. 19 Spangenbergin: wohl Wilhelmine, s. Nr. 297†. 26 Christian Theodor Oertel, geb. 1766, Adjunkt am Gymnasium in Neustadt; Wernlein schildert ihn in seinen Briefen als dumm und albern, s. Persönl. Nr. 13. 33f. zwei weibliche Schönheiten: Töchter des Neustädter Stadtsyndikus Joh. Salomon Walz (gest. 9. April 1796) und seiner Frau Sophie Juliane, geb. Schöpfel; eine von ihnen, Christiane Julie, war mit Oertel verlobt, der sich nachher bei Wernlein beklagte, daß Richter ihr die Cour gemacht, ja sogar einen Briefwechsel angeboten habe. (Wernlein an J. P., 31. Juli 1793.) 393, 14—21 So zieht sich Viktor im Hesperus unter dem Gesang Klotildens bei Sternenschein in eine Laube zurück (I. Abt., III, 104f.) 23f. Vgl. 372, 9f. 394, 2 Sonne: Gasthof in Bayreuth.