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Korrespondenz

Von Jean Paul an Renate Wirth. Schwarzenbach a. d. Saale, 10. November 1790.

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[ Schwarzenbach ] den 10 Nov. 1790.

Mademoiselle,

Wenn ich nur das Papier zu einem Briefe an Sie herlege: so wird
in mir alles rebellisch und rege. Jeder menschliche Kopf hat nämlich312,5
(wie die Anatomiker wissen) 4 Kammern, und das Herz hat 2 Kam
mern — nun wohnen bei mir in ienen 4 Kammern 4 lebendige Teufel
und in diesen 2 Logen 2 prächtige gute Engel. Alle die wollen auf einmal
reden und diktieren mir etwas zum Briefe an Sie.


Der Teufel in der ersten Gehirnkammer.... (Ich fahre heute am 312,10
17 Nov. erst wieder fort....) dieser Teufel also bläset mir am 17 Nov.
so gut wie am 10 N. ein, daß ich einen langen Brief von Ihnen ver
langen sol, weil Sie eben so schön schreiben als tanzen — ich lass’ es
aber bleiben, weil mit Ihnen nichts anzufangen ist, am wenigsten ein
Briefwechsel. 312,15

Der Teufel in der 2ten Gehirnkammer von vorne heraus soufliert
mir 3000 Glossen (wie sie die Fr. Postmeisterin nent); ich lass’ es aber
bleiben, weil Glossen so wenig meine Sache iemals sind als Ihre Sache.


Der Satan in dem 3ten Gehirn-Alkove ist der Satan selbst und
möchte haben, daß ich Ihnen von H. Selten in Sophiens Reise 312,20
abriethe — ich lass’ es aber bleiben, weil Sie es selber bleiben lassen
und den H. S. und ienes Buch ohnehin selten in die Hände nehmen.


Der Teufel in der 4ten Bude sagt blos, ich solte das schreiben, was
mir die 3 andern eingegeben; ich lass’ es aber natürlich bleiben.


Denn der herliche Engel in der 1ten Herzenskammer räth mir, 312,25
Ihnen nie schlimmer zu scheinen als ich bin und in dem Bisgen
Zwergleben, mit dem man sobald niedersinket, den armen zerrinnenden
Schatten, die man Menschen nent, nichts zu machen als Freude, wie
Sie mir sie geben, Sie mögen in der Vorderstube Verse oder in der
Hinterstube Prose mit mir reden. 312,30

Der 2te Engel, der alle meine Briefe endet, sagt mir, diesen mit der
Versicherung zu schliessen, daß ich bin der Fr. Postmeisterin, des H.
Postmeisters und Ihres ganzen Hauses und


Ihr oder Deroselben oder (welches am meisten ist)
Ew. HochEdelgeboren 312,35
gehors. Diener
Richter

Kehren Sie um.
313,1
Auf der andern Seite:

Ueber die 6 Soufleurs vergas ich 3 Bitten;



1) die daß Sie im Namen des H. Pfarrers dem H. Postm[eister]
ausser dem Komplimente noch sagen, daß er die Erlanger Zeitung 313,5
nimmer mithält —
2) die daß Sie dem H. Otto sagen — lassen, abends 〈18 Nov.〉
würde ich und die Brille der Frau Vesperpredigerin kommen —
3) die daß Sie das Zettelgen meinem Bruder senden —
die vierte könte die sein daß Sie mir nichts übelnehmen und daß Sie 313,10
den Briefsteller für besser halten als den Brief.
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Renate Wirth. Schwarzenbach a. d. Saale, 10. November 1790. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_347


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956. Briefnr.: 347. Seite(n): 312-313 (Brieftext) und 516 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin acc. ms. 1900. 49 (derzeit BJK). 4 S. 4°. K: Renata 20 [!] Nov. 90. i: Wahrheit 4,277. J: Täglichsbeck S. 17. K hat viele kleine Varianten. 312, 11 17] 20 K (beidemal) 17 3000] 1000 K 19 Der bis selbst] Der Teufel in der 3 Gehirnbude ist ein lebendiger Teufel K 22 ienes Buch] die Sophie K 27 den] davor und H 31f. sagt mir, … zu schliessen] lässet mich … enden K 36f. unten auf der 3. Seite nach einem großen Respekts-Zwischenraum H 313, 7 dem H. Otto] aus den H. Ottoen H

Richters Tagebuch berichtet unterm 9., 19. und 20. Nov. 1790 von Besuchen in Hof, Konzert, Tanz und vertraulichem Dialog mit Renate. 312, 20 Selten: der tugendhafte Geliebte der Heldin in J. T. Hermes’ Roman „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“ (1769—73). 26—28 Dieser Vorsatz zu allgemeiner Menschenliebe war die Folge der Todesvision, die Richter am 15. November, dem „wichtigsten Abend seines Lebens“, erfahren hatte. 313, 4 Pfarrer: Völkel. 8 Vesperpredigerin: Ottos Mutter.