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Korrespondenz

Von Jean Paul an Johann Samuel Völkel. Hof, 11. September 1785.

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[Kopie]

[ Hof, 11. Sept. 1785 ]
172,31

Es wäre weit höflicher, wenn ich um einen guten Zol tiefer an
fienge und ich wolte, es wäre auch weit vernünftiger … Ich sende
Ihnen mit vielem Danke Ihren Nösselt zurük, der scharfsinnig und
beredt genug ist, um der Vorläufer und Präadamit eines Jerusalems 172,35

zu sein … Um mein Herz zu bessern, bitt’ ich Sie um einige Bändgen 173,1
von Fedd[ersen]; und um meinen Kopf aufzuhellen, um Gerhards
Quartanten de morte. Ich gäbe aber etwas darum, wenn der leztere
irgendwo versichert hätte, daß ihm seine Quartanten, wie dem H. W.
seine Predigten, ordentlich inspiriret worden: man wüste doch dan, 173,5
woran man wäre und dürfte ihm ohne Anstand alles glauben. Ich bin
überhaupt überzeugt, daß es den grösten Nuzen hat, wenn man wie
W—s, die Abkömlinge seines Unterleibs für Kinder der Höhe aus-
giebt und daß man dadurch vielleicht ienem Bauchredner in Frankreich
nahe komt, der den Personen, mit denen er im Wald spazierte, die 173,10
Stimme seines Bauchs für Stimmen verkaufte, die von den Gipfeln
der Bäume herunterkämen. Auch folget hier meine minorenne Ab-
handlung über die vielen Religionen mit, die nicht einmal mir noch
gefället und an die ich selbst nicht mehr glaube. So ein wetterwen
disches und flatterhaftes Geschöpf ist der Mensch! Beinahe könte man 173,15
sagen, daß man, so wie man alle 2, 3 Jahre durch die Ausdünstung
seinen alten Körper einbüsset und einen neuen bekomt, in noch ge
ringerer Zeit auch eine neue Sele erhalte. Und dennoch verlieben wir
uns in unsre Meinungen so sehr, von denen wir vermuthen müssen, daß
wir sie in kurzem vielleicht eben so sehr hassen werden; und entrüsten uns 173,20
gegen unsre Brüder, die oft nur den Irthümern anhängen, denen wir
sonst selber nachliefen. Wahrhaftig wenn ich ieden, der von meinen
iezigen Meinungen abgeht, verfolgen und verdammen sol, so mus ich
bei mir selbst zuerst anfangen. Welches elende Schiksal des Menschen,
daß so oft [seine] Aufklärung nur Tausch der Irthümer und seine 173,25
Bekehrung nur Wechsel der Leidenschaft ist! — Der vorvorige Periode
erinnert mich an unsern neulichen Streit über die Zulässigkeit des
Zorns. Wenn ich einen andern wegen seiner Bosheit nicht hassen darf:
so, scheint es, kan ich auch mich selbst wegen meiner Laster nicht hassen
dürfen und meine Verabscheuung mus blos auf das moralische Übel 173,30
gehen: denn alle die Gründe, womit [ich] den andern entschuldige, müssen
auch mir zu statten kommen können. Sonach fiele die Reue hinweg …
Länger darf ich Sie aber nicht ermüden, da dieses nur ein Brief, allein
kein Scherz in Quart ist: denn die Scherze in Quart haben eigentlich
das Recht — und sie können dafür den gültigsten Titel aufweisen — 173,35
länger als sich schikt den Nächsten zu ermüden..... Ihre vortrefliche
Gattin, die ich höher schäze als die Tugendlosen Damen der grossen
Welt, die durch das Gesicht das Herz ersezen wollen und von denen wie 174,1
vom Chinabaum nichts zu brauchen ist als blos die Rinde nämlich die
Kleidung.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Johann Samuel Völkel. Hof, 11. September 1785. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_114


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956. Briefnr.: 114. Seite(n): 172-174 (Brieftext) und 465 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

K: An Pf[arrer] Völkel in Schwarzenbach. Sept. 11. i: Wahrheit 4,10.

Johann Samuel Völkel (1748—95; s. Fikenscher), der Nachfolger von Richters Vater in der Schwarzenbacher Pfarre, Pate des jüngsten Bruders, ein aufgeklärter Theologe, hatte als Diakonus in Schwarzenbach Jean Paul eine Zeitlang Privatunterricht in Philosophie, Religion und Geographie erteilt, vgl. II. Abt., IV, 122ff. Er war seit 31. Juli 1775 verheiratet mit Margarethe Amöne Grimm aus Regnitzlosau, die ihm 9 Kinder gebar, deren älteste später Jean Pauls Schüler wurden. 172, 34 Joh. Aug. Nösselt (1734—1807), Professor der Theologie in Halle. 173, 2 Jak. Friedr. Feddersen (1736—88), Prediger. Joh. Gerhard (1582—1637), „Loci theologici“, Jena 1610—22, 8 Bände; darin Kap. 29 „De morte“; Exzerpte daraus im 9. Band von 1785 und im 15. Band von 1788. 4.8 Wahrscheinlich der Superintendent Weiß in Hof; vgl. 185, 3f. 16f. Vgl. I. Abt., II, 62. 34 Scherze in Quart: so wollte Richter damals seine zweite Satirensammlung betiteln, s. I. Abt., I, Einl. S. XXXVI.