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Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi Berlin, 2. Januar 1801 bis 27. Januar 1801.

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44,22
Berlin d. 2 Jenn. 1801.

Geliebter Heinrich! Dein lieblicher Brief war eine Hand, die meine
fülte und drükte; ich danke dir sehr. Deine Solstizial-Krankheit wust’44,25
ich voraus; alle weit in den Aether hinaufgebauete Menschen haben
jährlich 4 Quatember Erschütterungen. — Ich brauche gegen meine
kaum merkbaren Erdstösse keinen Arzt als mich und die Zeit. — Am
erfreulichsten war mir die Nachricht von deinem philosophischen Kon-
tingent; für dieses erlass’ ich dir gern Briefe. Noch hab’ ich das erste44,30
Stük nicht. Hier ist Philosophie kaum in den — Buchläden anzu
treffen unter den Sortimentsartikeln. Fichte lebt daher sehr unbe-
kränzt und ohne die jenensischen Studenten-Karyatiden, einsam und
stum. Melde mir ja gleich den Abdruk des 2ten Stüks. Komt denn
die Abhandlung, woraus du mir Kredenz-Tropfen geschikt, nicht heraus, 45,1
wenigstens in den Beiträgen? —

Ich lebe hier ziemlich mit Tiek und Bernhardi (Schlegelianern)
zusammen; eh’ wir divergieren, konvergieren wir doch recht sehr;
diese Parthei hat doch den rechten poetischen Geist, indes die feindliche45,5
nicht einmal das Seelenorgan davon besizt. Geist ist ihr überal alles
und die Form seiner Menschwerdung gleichgültig; so sind sie alle deine
Herolde, sogar als Gegner, indes die hölzerne kritische Opposizion als
verhülte Trompeter in deinen Werken umhergehen. Jene sind durch
mich mit Haman bekant gemacht und nun seine ofnen frohen Schüler. 45,10
— Apropos! ich habe alles von ihm, nur nicht sein Fragment aus
London, dessen du gedenkst; kanst du mir es nicht auf 1 Monat leihen?
— Und noch: Sol denn diese grosse Sphinx, wie die ägyptische, noch
immer halb im Sand begraben bleiben und wilst du nichts thun, sie un
bedekt vor die Welt zu stellen? — Du und Herder sind die einzigen, die 45,15
es können.


Es wird mir schwer, dir der Spiegel meiner Braut zu sein. Wenn
ich dir sage, daß sie jungfräulich-edel, streng und weich, zu bescheiden,
fest, sehr schön, philosophisch-gebildet (durch des edeln Vaters lange
Erziehung; denn er ist von der Frau geschieden) resignierend, vol Liebe 45,20
für Eltern und Geschwister und sogar in der feurigsten Liebe alle
andern Mittöne und Leittöne der Menschheit für jedes
Leiden und Freuen
bewahrend, jung und ganz gesund etc. ist: so
weist du noch nichts. Mache keine Schlüsse aus meinem ersten
Irthum; sogar Herder war von der vorigen Karoline begeistert, die 45,25
so edel war, nur aber mit ihrem Egoismus nicht für mich paste. Mein
Leben mit der vorigen wurde mehr auf dem Schauplaz des — Brief
papiers gespielt; wurde nun ein hölzerner vorgeschoben, so trat der
Antagonismus unserer Naturen in jeder Minute grel auf. Allein mit
der jezigen C. wuchs ich — ohne eine disharmonische Sekunde — in45,30
einem vierteljährigen Beisammenstehen nur desto fester zusammen.
Sogar die Berlinerinnen, die mich sehr lieben und mir viel gönnen,
entliessen das holde Wesen mit einem Kranz von ihrem Richterstuhl.


d. 27. Jenn.

Eben hab’ ich deine Sinai-Briefe an die und den Stolberg und 45,35
Holmer gelesen und dein kräftiges Herz und deinen transszendenten
Protestantismus bewundert. Ich hätte nur das zu sagen: du hast 46,1
weniger den katholischen als den lutherischen St. zu verdammen — was
in seiner Apostasie den Giftstof bildet, ist die vorige Giftbaumswurzel,
die ja ohne jene, (das verhüllende Laub derselben) da war, die ein
äugige Leidenschaftlichkeit. Und zweitens bedenke, wie der ätherische46,5
Fenelon den Papismus nicht nur gegen Ramsay vertheidigte sondern
auch für oder unter Bossuet ertrug; und noch das, daß wenn die stille
lange Wirkung der Erziehung bei Fenelon etwas entschuldigt, auch
die eben so lange der innern fehlerhaften Textur etwas für St. gelten
müsse. Stolbergs Fehler ist freilich weniger, daß er ein Päbstler wurde 46,10
als daß er nie etwas besseres war; und sein Übertrit ist mehr prote-
stierend als katholizierend. Gleichwohl mus jedes Herz auf der Seite
des deinigen sein; den herben Schmerz nicht einmal gerechnet, den
dieses monachalische lebendige Einmauern eines geliebten Freundes
gab.46,15

— Noch hab ich Reinholds Aufsaz nicht; ich bitte dich, Guter,
geradezu um den deinigen, ob ich dir gleich noch nichts gegeben.


Lasse mir nur für die Palingenesie des Aufsazes für das Taschenbuch
die Frist bis nach Endigung meines 2ten Titans Bandes zu. Gewis
bekomst du einen; hebe mir darin den Winter auf, damit es nicht zu46,20
spät sei, wenn ich erst im Frühling komme.


Fichten — mit seiner Granitstirn und Nase, so knochig und felsern
wie die wenigen Gesichter, die alles ändern, nur nicht sich — hab’ ich
bei Fesler nach meiner Art freundlich um 11 Uhr abends (ich kam
aus einem gelehrten Kränzgen, in dem wie in jedem gelehrten hier 46,25
nur Blätter ohne Blumen waren) angesprochen und mit ihm 5 4 Stun
den lang disputiert, aber doch so daß er mich besuchen wil; er sagte,
da ich ihm vorwarf, was er gegen den Realismus philosophisch sage,
sei früher schon in deinem Hume wörtlich gesagt, „er ehre und liebe
„und lese dich sehr, halte dich für den grösten Kopf, aber alles warum46,30
„du den R[ealismus] doch annähmest und was du dafür sagtest,
„sei ihm gänzlich dunkel und unbegreiflich“. Einseitig ist er bis zur
Magerheit des Sinnes. Aber gleichwohl bleibt sein Gesicht herlich
und (wie das Rückenmark) eine Fortsezung oder Ankündigung des
Gehirns.46,35

Ich bin zweifelhaft, ob ich in dein Taschenbuch nicht einen komisch-
ernsten Aufsaz über die Reliquien gebe.

Berlin gefält mir unsäglich; die Gelehrten ausgenommen, gegen 47,1
deren troknen deistischen Berlinismus in Poesie und Philosophie eben
der Jenaismus die abtreibende Kur ist.

Lebe wohl, Herlicher, und schreibe mir sobald als es dein Körper
erlaubt; denn dein Herz sagt gewis früher Ja. Grüsse die Deinigen!47,5
Bleibe dem Alten der Alte! —



Richter

Geliebter! der Brief geht erst heute den 2 Feb. fort.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi Berlin, 2. Januar 1801 bis 27. Januar 1801. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_80


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 84. Seite(n): (Brieftext) und (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 8 S. 8°. Präsentat: Jean Paul abgeg. v. Berlin d. 2ten Febr. e. d. 7ten Febr. 1801. b. 4ten May. Neue Friedrichs Strasse N. 22. K (nach Nr. 81): Jacobi ab den 2 Febr. J: Jacobi S. 78×. A: IV. Abt., IV, Nr. 126. 44,26 hinaufgebauete] aus hinaufgebaueten H 28 kaum merkbaren] nachtr. H 30 erlass’] aus schenk’ H 45,13 Und noch:] nachtr. H 23 ganz] nachtr. H 26 war] aus ist H 30 wuchs] aus wachs’ H 36 transszendenten] nachtr. H 46,5 der ätherische] nachtr. H 7 oder unter] nachtr. H 8 Erziehung] davor gestr. Angeburt oder H 11f. mehr protestierend als katholizierend] aus eher gegen 〈für〉 die verlassene als für die ergriffene Religion H 23 die wenigen] aus wenig H 29f. und liebe und lese] nachtr. H 31 und] aus oder H 36f. einen komisch- ernsten Aufsaz] aus eine komisch- ernste Abhandlung H

44,29 f. Kontingent: Jacobis Abhandlung „Über das Unternehmen des Kritizismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen“, die im 2. Heft von Reinholds „Beiträgen zur leichteren Übersicht des Zustandes der Philosophie beim Anfange des 19. Jahrhunderts“ erscheinen sollte, aber erst im 3. Heft (Hamburg 1801) erschien; das 1. Heft enthält u. a. ein Sendschreiben Reinholds an Fichte, worin Jacobi verteidigt wird. 45, 1 Vgl. Bd. III, 129,30†. 11–16 Hamanns 1748 in London geschriebene „Biblische Betrachtungen eines Christen“ hat Jacobi 1813 im 3. Bd. von Friedrich Schlegels Zeitschrift „Deutsches Museum“ veröffentlicht. Vgl. Bd. VI, Nr. 629† und VII, Nr. 326†. 35ff. Sinai-Briefe: Jacobis drei Briefe über Stolbergs Konversion (Zoeppritz Nr. 174—176), geschrieben im August 1800 an die Gräfin Sophie Stolberg, den Grafen Holmer und Friedrich Leopold Stolberg, erschienen durch eine Indiskretion im Sommer 1802 in den „Neuen theologischen Annalen“, waren aber vorher schon in Abschriften verbreitet; vgl. 169, 24f. 46, 16 Reinholds Aufsatz: s. Nr. 112†. 20f. In dem Überflüssigen Taschenbuch auf 1800 waren die Beiträge in vier Jahreszeitenabschnitte eingeteilt, wobei aber der Winter am Anfang steht; das Jacobische Taschenbuch auf 1802 hat keine solche Einteilung; Jean Pauls Beitrag steht darin am Schluß. 36 f. Vgl. Persönl. Nr. 325.