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Korrespondenz

Von Jean Paul an Christian Otto. Hof, 31. März 1795.

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[ Hof ] d. 31. März 95.
66,15

Ich schreib’ es gerade nach Endigung unserer Penny-Post. — Hier
hast du den Fixlein mit 2 oder 3 neuen Blatknospen. Deine unter-
strichene[n] Wörter in ausgestrichene zu verwandeln war noch keine
Zeit da gewesen. Die neuen Blätter hab’ ich durch Eselsohren zu be
zeichnen gesucht; ein toller Name, der daher kommen solte [!], daß66,20
sonst die Mönche, wenn sie einen profanen Autor zu lesen begehrten,
ihn durch die Mimik solcher Ohren benanten und verlangten.


Die Zwei-Einigkeit unserer Personen artet immer mehr zu Einem
Wesen, daß ich am Ende deinem Urtheil mistraue, weil ich denken mus,
es ist dasselbe als wär’ es meines, die freundschaftliche jedem unüber66,25
windliche Partheilichkeit nicht einmal gerechnet. An deinem Blatte ge
fället mir am meisten das Lob, das es — verdient, nicht das, das es
giebt. Mit einem Worte: alle deine Briefe an mich (und wahrschein
lich noch mehr die an andere) sind in Rüksicht des Ausdruks (denn der
Sachinhalt ist gleich abgetheilt) mit avtochthonischern, eignern, kräfti66,30
gern, abbreviertern etc. Wendungen volgefült, als relativ deine Briefe
ans Publikum, den Aufsaz über die Kreuzzüge etc. ausgenommen, aus
dem noch der Tempel der Vervolkomnung (wie die Wirkung des
Mangels an DrukBüchern auf die Kreuzverirrungen) vor mir schwebt
wie ein hängender Garten, und den gedrukten antithetischen über die 67,1
3 Revoluzionen ausgenommen. —

Das Wort „Idylle“ ist die rechte Bezeichnung für alle Historien des
J. Pauls: die Historie meines eignen Lebens führ’ ich in mir selber
idyllenhaft.67,5

Die Tag- und Nacht-Gleiche, die du von einer Idylle foderst, ist
gegründet; aber ich traf es nur, weil mein Gefühl stärker war als mein
Wille: denn eben wegen dieses Mittelpreises aller Szenen darin dacht’
ich, (weil nichts darin so heftig auszuführen war wie im Hesperus oder
in der künftigen Biographie), ich würde dümmer und matter. 67,10

Ich gebe dir — der Kollazion wegen, wie das über den Fälbel —
deine Blätter zurük zur Retour an mich. Daß Fixlein grüne Finger
mitbringt, ist nicht Humor, sondern Selbstvergessenheit aus übler Er
ziehung, und Wunsch und Mangel der Lebensart zugleich.


Deine Kritik über das lockere mürbe des lezten Kapitels fand ich67,15
unter dem Total Ueberlesen wahr; ich habe nach Vermögen die ge
schlichteten Ruthen von Steinen aus dem Bruch in etwannige Mauern
verwandelt.


In Einem Punkt hab ich mich gar nichts [!] um dich bekümmert —
in Rüksicht der Heilmethode des Quintus. Die Ecken, die darin an deine67,20
Fühlfäden anstossen, sind eigentlich (aber nicht die natürliche Heil
methode sondern) die zufällige Öfnung dieser Pandora-Büchse, die zu-
fällige Anlangung des Schlüssels, und das Gewagte im eigenmächtigen
Sontagsläuten. Und diese Ecken hab ich, so gut’s der Einfug leidet,
weggestossen. Gegen deinen Rath, den Pfarrer blos durch die Zeit zu67,25
kurieren, wäre und ist das einzuwenden: daß unser Gefühl allezeit etwas
anders fodert als das, was es voraussieht. „Weiter wars nichts? Das
wust’ ich so!“ sagt es. Kurz keine Entwickelung kan gelten, die auf mei
nem freien Willen beruht — sie mus die Tochter der Verwickelung sein.


Der Eckel vor dem Eckel ist wie bei meinem Emanuel ein karakte- 67,30
ristischer Zug von dir: deine Strenge wäre für englische und noch mehr
für satirische Autores Höllenstein. Zu gros ist sie wenigstens gegen das
Wort „Beriechen“ von einem Kuchengarten gebraucht.

Ich werde jezt sogleich zu dir hinüberlaufen und erst um 10⅓ Uhr
sagen: gute Nacht.67,35


Richter

N. S. Gieb mir lieber das Andere später zurük als dieses.


Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Hof, 31. März 1795. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_86


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958. Briefnr.: 87. Seite(n): 66-67 (Brieftext) und 410-411 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 3½ S. 4°. K (nachtr. im 4. Briefbuch nach Nr. 67) ohne Überschrift. J: Otto 1,203. B: IV. Abt., II, Nr. 27. A: IV. Abt., II, Nr. 30. 66,27 das, das es] nachtr. H 32 und 67,2 ausgenommen] nachtr. H 67,21 aber] nachtr. H 26 und ist] nachtr. H allezeit] aus allemal H 28 sagt’ H 30 Eckel] beidemal verb. in Ekel, aber anscheinend von fremder Hand H 31 von dir] nachtr. H

66,32 Aufsatz über die Kreuzzüge: vgl. Bd. I, zu Nr. 418. 67, 1f. über die 3 Revolutionen: vgl. Bd. I, zu Nr. 384; wo gedruckt? 3 Otto hatte geschrieben: „Ich möchte sagen, für eine Idylle (vorausgesetzt daß du die Geschichte deines Fixleins darunter rechnest ...) ist es das größte Lob, wenn alles in gleicher Ruhe hinfließet ... Wie man gerne bei dem Anblicke beruhigter Menschen, bei denen die Stürme der Leidenschaften sich gelegt haben, verweilet, ... so verlangt man auch von der idyllenmäßigen Erzählung ihres Lebens dieses wiegende Wohlbehagen ...“ 10 künftige Biographie: Titan. 12–14 Otto hatte in dem Zuge, daß Fixlein mit grünen Fingern (von den Saftfarben des zerdrückten Laubes am Steige) vor seiner vornehmen Patin erscheint (I. Abt., V, 74, 21f.), etwas Humoristisches, romantisch Veredeltes gefunden. 15 Vgl. B: „Die letzten Blätter haben ein wenig von der dich übereilenden Schnelligkeit, die sich nach dem Schluß sehnt ...“ 19–29 Otto hatte die Kur, durch die Fixlein im letzten Kapitel gerettet wird, als etwas zu Einziges und Zufälliges beanstandet: „Könnte Fixlein nicht ohne das Läuten zur Kirche etc. genesen, bloß durch die ein wenig verlängerte Dauer der Krankheit ...?“ 30 Emanuel im Hesperus; vgl. I. Abt., III, 201,25–28. 33 Otto hatte den Ausdruck „den Kuchengarten beriechen“ (I. Abt., V, 62, 34f.) beanstandet: „Nimm ein Verbum, wo du das edlere Wort Geruch hinzusetzen kannst.“ 37 das Andere: Fälbel (vgl. Nr. 77) und die Aufsätze über die Phantasie (vgl. Nr. 68) und über die Liebe (vgl. 74 , 15 †).