Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 9. Januar 1796.
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Ihr Brief brachte mir ein verjüngtes Rosenthal von Leipzig mit
20 Lustgängen für die Phantasie nach Hof. Nach einem solchen
Brief
solte man sich umwenden und den
V[erfasser], der hinter dem Rücken142,5
steht und über die Achsel zusieht, umarmen und recht von
Herzen an das
Herz drücken können. Wir sind alle in so
alternierenden Stimmungen
beisammen — der eine ist heute warm,
der andre morgen und der dritte
übermorgen gegen Abend und
selten begegnen sich die besten Menschen
gerade in gleicher
Wärme und in gleicher Kälte — und das Uebel ist so142,10
gros, daß ich oft das als ein gutes Mittel dagegen gehalten habe, wenn
die Leute kaum zu einander sprächen sondern nur schrieben und
wenn
sich eine Geselschaft guter Freunde an einen Tisch
zusammensezte und
so mit einander bei so schneller Post Briefe wechselte von
den äussersten
Enden des Tisches. Ihr Brief vol wärmenden
Lichts und vol leuchtender142,15
Wärme beweiset mir, daß Sie
in der ellyptischen Kometenbahn der
langen menschlichen
Bildung das Aphelium schon zurükgelegt und nun
im Perihelium
sich sanft erwärmen, das sich bei dem Menschen mit dem
schönen
Fal in die Sonne selbst beschliesset. — Die Liebe mus etwas
Körperliches haben wie einen Zweig, auf den sie herunterfliegt.142,20
Schicken Sie mir den Zweig, Ihre Silhouette. Meine wil ich
Ihnen
auf meinem eignen Halse getragen bringen. — Über die
Weiber heg’
ich nicht blos eine sondern 2 recht vernünftige
Meinungen, die ich aber,
weil sie sich widersprechen, in
verschiednen Zeiten annehme — bald
sez’ ich litteras laureatas für sie auf, bald Klaglibelle. Sie haben
andre142,25
Tugenden als wir und in der Liebe leihen wir
ihnen unsre dazu: das ist
der Fehler. Ich glaube,
[daß] jeder Man von Phantasie beinah
jedes
Mädgen — nur das dumme nicht — heirathen könne ohne
Schaden:
das mänliche Feuer zerschmilzt diese schön
gewundne Wachsmasse und
dan kan er daraus formen was er wil,
sogar einen Engel. Der fremden142,30
Phantasie widersteht
keine Frau; und ein Halbgot von Man kan, wenn
er nur reden
kan, eine Halbgöttin erschaffen. Aber der Former mus
selbst
geformt sein: die edelsten Menschen schieben oft ihr moralisches
Arondissement auf ihre Ehe auf; aber sie solten umgekehrt
diese auf
jenes verschieben. Wenn der Man sich nicht ganz in
Richtig[keit] ge142,35
bracht: so zerstört er den zarten Werth
der besten Gattin am ersten. —
Ich habe nicht mehr Zähne als
Jahre und jezt heirathen die neuesten
Deutschen wieder in der
Epoche der ältesten. 2 Mädgen, aus denen
143,1
[man] 2
Klot[ilden] zusammengiessen könte,
worauf doch noch so viel
Vorzüge übrigblieben, daß daraus ein gewöhnliches zu backen
wäre.
Jed[e] hat
einen besondern Karakter und es giebt eben so viele
Arten — wie
bei den Engeln — als Individuen — Eheliche Launen143,5
verschieden von jungfräulichen — Ich werde sterben, eh’ ich nur ein
Paar Wände meiner Gehirnkammern abgeschrieben. Er
[Otto] ist
meine warme Sonne im bunten Sonnenhof von Bekanten. Wir
haben
einander alles gegeben, Herz und Freundschaft auf
Ewigkeit und wir
können nun nichts mehr thun als so bleiben. Er
ist mein ästhetisches143,10
Zensurdepartement. Über die
meisten Blumen meiner Jugend sind
Gräber gedekt — an 2 Köpfe
denk’ ich, so oft ich lang auf die Erde sehe,
in der sie schlafen. — Kälte gegen das süsse und goldne
Christgeschenk
des Lebens — Wenn der Tod noch eine Brust in meinen Armen
durch
stösset, so wird er meine auch
getroffen haben. Unser unendliches Herz143,15
hat auch einen
unendlichen Raum und unendliche Wärme darin, aber
wir geben
leider dem Körper der Erde, was dem Geist der Erde gehört
und
stellen die h. Stätte unsrer Brust mit dem morschen Gerümpel des
Lebens vol. In der
mit[leren] Zeit
[machte man] viel Rühmens von
Cervottus
Bibl[iothek], die wenigstens 20 Bände
stark war: was
143,20
würde man erst gesagt
[haben], wenn man das Bücherverzeichnis
der
meinigen gesehen, die vielleicht noch einmal so stark.
— Litter. Grandat.
Wenn Sie mir die kritischen Urtheile aus
dem Munde solcher Per
sonen, die selbst
eines aushalten, zuweilen zuwenden; aber nur Urtheile,
welche
tadeln, bessern. — Sie sind mir so bekant als wär’ ich mit143,25
Ihnen um die Welt gereiset. Könt’ ich Ihre Hand drücken: so
braucht’
ich nichts zu schreiben.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 9. Januar 1796. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_220
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K: Jenn. 9. Oerthel Leipzig. i 1: Wahrheit 5,37×. i 2: Denkw. 1,323. 143, 1 2] aus E[in] 11 über davor gestr. Der Tod hat
142 , 12–15 Vgl. Bd. I, Einl. S. VI, Fußnote. 143, 1 zwei Mädchen: vielleicht Amöne Herold und Renate Wirth; vgl. auch Persönl. Nr. 20†. 12 zwei Köpfe: Adam Lorenz von Oerthel und Joh. Bernh. Hermann. 19–22 Vgl. I. Abt., XVII, 394, 7–11 .