Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 31. Dezember 1795.
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Nichts ist süsser als einen Brief aufzureissen, der erst eine Reihe von
Briefen anfängt. Ich bin begieriger nach Briefen als nach
Büchern,
diese müsten denn noch Handschriften sein, und ich
wünschte die ganze136,20
Welt sezte sich nieder und schriebe
nach Hof: ich wolt’ ihr antworten.
Der Ihrige hängt wie ein junger Kranz an den lezten Tagen
dieses in
jämmerlichen Nebel zerrinnenden Jahrs und meine
Dezembertage
tragen mit dem hellebor[us]
nig[er] flore roseo zugleich
Blüten. Ich
hatte das Vergnügen, Sie im höhern Sin kennen zu
lernen im136,25
September dieses Jahrs in Hof und zwar in einer ausgewählten
Geselschaft, wo Herder dabei war,
der Sie uns andern präsentierte.
— Mit Einem Wort, seit — hängt Ihr Bild in meiner Seele.
Weiter
hab’ ich kein Wort von Ihnen — obwol über Sie genug
— gelesen
— ferner hab’ ich nicht gelesen Göthe etc. —
desgleichen den Peter
136,30
Pindar nicht — von dem Moniteur keine Zeile — und was das neue
Werk betrift, so werd’ ich passen genug öff.
[?] Auf einem so ansehn
lichen Handelsplaz wie Hof, der aber kein
litterarischer, kan ein Mensch
nicht einmal die Akten seiner Prozesse
[einsehen?]: ich war ein Jahr
lang Ihr Klient, eh’ mirs einer schrieb, daß ich einen
Gegenpart und137,1
einen Patron hätte — Deutlich — wenn ichs nicht
schon bin, Ihnen
verdank’ ich, was für meine
grön[ländischen] Prozesse gegen
Kozebues
rigaische gesagt worden ist, wiewol der Advokat zehnmal besser
als
meine Sache und diese sogar schlimmer als der Gegenpart ist.
Meine137,5
Satire gegen den Adel halt’ ich leider für eine
gute auf mich selber,
nicht der Richtung sondern der Manier
wegen, wenn die schlimste eine
ist. Sie werden sich jezt aus
meinem Aufenthalt und aus meiner Unart,
in zu vielen Fächern
umherzuschweifen, gutmüthig es erklären, warum
ich von Ihren
Werken noch nichts gelesen als ihr Lob. Übrigens wenn137,10
man die guten Bücher aller Fächer
zusammensumm[ierte] und die
schmalen Tage dazu, die uns unser citissime Leben zu ihrer Lesung aus
wirft: so würde man einen Überschus der Bücher über die Tage
finden.
Ich wil Ihnen es noch einmal sagen, daß Ihr vom
Geist der Humani
tät inspirierter Brief
den meinigen sanft bewegt habe. Ob spanische137,15
Wände von
Wäldern und Meilen oder nur von Fleischfasern 2 ver
wandte Ichs mit Sprachgittern trennen — der Unterschied ist
klein,
zwischen Geistern giebts keine Abwesenheit als den
Has und den Ir
thum — ich und Sie sind und
bleiben also beisammen. — Wie existiert
die idealische —
gleichsam die 2te Welt über der ersten — darum137,20
weniger, weil sie nur im Ich und nicht zum 2ten mal existiert? — Ist
nicht ein
Gedanke eine Existenz, die höher ist als jeder Körper und die
wir durch die Täuschung der Personifikazion jedem Körper unterschieben
müssen? Umgekehrt die idealische Welt ist die einzig wahre und
die sin
liche ist
[die] optische — und sogar diese
optische kan nicht genossen,137,25
nicht einmal empfunden
werden ohne den Reflexionsspiegel der innern
idealischen. Blos
die hanseatische, statistische, kanzleimässige Seele, in
der
nichts ist als der schmuzige Abdruk der sinlichen Nachbarschaft,
blos diese idealisiert im schlimmen Sin diese Welt, die nach
dem Ideal
des höchsten Genius zusammengesezt ist und die der
engste nach seinem137,30
verrenkt. Jeder Traum, jede
Phantasie, jeder Wunsch existiert so
gut in und über uns als der Regenbogen und das
Morgenroth, die
beide niemand betasten kan und wir werden nur
durch unsern geistigen
Hunger irre, der jede innere Schönheit,
noch einmal ausserhalb der
zarten innern Wolke, auf dem
kothigen Boden beleibt und verdoppelt137,35
erblicken wil.
Selber für Gott mus es eine idealische Welt geben, weil
jede
geschafne endliche tief unter seiner vorgeschafnen unendlichen
stehen mus. So viel ist wahr, die Menschen sind Gaukler, die mit dem138,1
Kopf auf d[er] Erde
auftretend so in unbequemer Stellung den be
rauschenden Nektartrank der höhern Phantasie hinauf
trinken. Mein
Brief wird mit andern Schneeflocken im neuen Jahr
vor Sie flattern.
Er hat mit ihnen nur die Vergänglichkeit,
nicht die Kälte gemein.138,5
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 31. Dezember 1795. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_211
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K: Oertel in Leip. d. lezten Tag 95. i: Wahrheit 5,81×.
Friedrich Benedikt von Oertel, geb. 16. Nov. 1767 in Leipzig, gest. in geistiger Umnachtung am 27. Okt. 1807 in Eutritzsch bei Leipzig, hatte am 26. Dez. 1795 nach der Lektüre des Fixlein einen (nicht erhaltenen) enthusiastischen Brief an Jean Paul geschrieben (vgl. seinen Brief an Amöne Herold v. 26. Dez. 1796). Sein gleichnamiger Vater, geb. 8. Mai 1735 in Leipzig, 1753 geadelt, gest. Febr. 1795, war Besitzer des Ritterguts Döbitz bei Taucha, lebte aber anscheinend meist in Weimar. Die Mutter, Johannette Jakobine, war eine geb. von Greiner. Friedrich hatte einen jüngeren Bruder, Ludwig (s. Nr. 355†), und eine Schwester, Friederike Anna Amalie (gen. Mimi), geb. 31. Okt. 1771 in Leipzig, die 1798 die Gattin des Fürsten Heinrich von Carolath-Beuthen (geb. 1750) wurde. Von dieser erhielt Ernst Förster die (nicht vollständig erhaltenen) Originale von Jean Pauls Briefen an Friedrich, die er 1863 in der 2. Abteilung des 1. Bandes der Denkwürdigkeiten veröffentlichte, und die dann mit Jean Pauls Nachlaß in die Preußische Staatsbibliothek gelangten. Oertels sehr zahlreiche Briefe an Jean Paul, die dieser nach Friedrichs Tode an dessen Bruder sandte (s. Bd. VI, Nr. 465†), sind bis auf wenige von Jean Paul zurückbehaltene Blätter verloren gegangen. Dagegen haben sich Briefe Oertels an Amöne Herold erhalten (Koburg). Oertels zahlreiche, teils abhandelnde, teils darstellende Schriften, Übersetzungen usw. findet man bei Meusel verzeichnet. Sein anonym erschienenes Werk „Über Humanität; ein Gegenstück zu des Präsidenten von Kotzebue Schrift vom Adel“, Leipzig 1793, wurde von Herder im 79. Humanitätsbrief (6. Sammlung, Riga 1795, S. 181) lobend erwähnt. Da in der von Oertel angegriffenen Schrift Kotzebues (Leipzig 1792) der Verfasser der Grönländischen Prozesse wegen seiner Satire auf den Adel (I. Abt., I, 72—77) ein elender Witzling genannt worden war (vgl. Euphorion, XXI, S. 227), bezeichnet sich Jean Paul als Oertels Klienten, obgleich in dessen Schrift die Grönländischen Prozesse nicht erwähnt werden. 136, 30f. Peter Pindar: Pseudonym des englischen Satirikers John Wolcot (1738—1819), Verfassers des komischen Heldengedichts „The Lousiad“ (1768; s. I. Abt., XI, 133,1–4); Jean Paul nennt hier anscheinend nur ein paar willkürlich herausgegriffene Werke. 137, 3f. Kotzebues rigaische Prozesse: wohl Verwechslung mit Reval, wo sich Kotzebue zur Zeit der Abfassung seiner Schrift über den Adel aufgehalten hatte. 138, 1–3 Vgl. I. Abt., XI, 116, 8 f. (Vorschule der Aesthetik, § 33).