Von Jean Paul an Christian Otto. Dresden, 16. Mai 1798 bis 21. Mai 1798.
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Lieber Otto! Gestern kam ich an, daher wil ich dir heute noch nichts
über den Dresdener Flor, Verfal, Populazion und Moralität
etc.
64,15
schreiben, sondern über den Leipziger.
Unter der Messe wurd ich so besucht als stände ich ausser dem Thore
und mässe entweder 2 Schuh oder 8. Ich wil dich mit keinem
Passagier
zettel von flachen
Orkusschatten behängen sondern im Kalender nur
einige
Heiligennamen roth schreiben. Ich sah Matzdorf, der nicht
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eigennüzig (eher grosmüthig aus Schwäche) sondern
fürchterlich
furchtsam ist (sein
schlechter Druk war nur Angst, nicht Gewinsucht)
weich,
wohlwollend und mit dem man machen kan was man wil d. h.
sol; ich lieb ihn und seine Mutter und Frau, die beide hel, entschlossen
und verbindlich sind. — Dan v. Retzer aus Wien, dessen
Wienerische
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ungelenke Treuherzigkeit mehr moralisch- als
ästhetisch-vortheilhaft
gegen die
Berl[inischen] und
Sächs[ischen] schnellen
Evoluzionen,
gegen die Doppelzüngigkeit und Vielfüssigkeit ihrer Ideen
abstach. —
Dan Merkel, ein junges zartes, dan Morgenstern,
ein schwärme-
risches liebes Mängen — dan Kanzlerin
v. Bose, sanft, bescheiden,
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schön, und ein Gegenstand meines Verliebens, sie
sol aber den weib
lichen Ehrenpunkt wie
einen Gefrierpunkt behandeln und scheuen. —
Dan Böttiger,
Bertuch, Becker (den Reichs-Anzeiger und Noth- und
Hülfs Autor, mat und mittelmässig), Legazionsrath Matthäi
aus
Dessau (ein gereister gelehrter Biederman) Reichard und
seine Frau
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mit der schönen Nase und den Teufel und seine Grosmutter.
Ich as
zweimal an einer table
ronde, deren eine Hemisphäre Autoren (Rezer,
Böttiger, Bertuch, Zink, etc.) und deren andere, als musculi antagoni-
stae, Buchhändler umrangen,
Vieweg, Unger, Decker jun., Fromman,
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Hartknoch, Nikolovius etc. etc. etc. Lauter
gebildete, feine Freie; aber
dem Hartknoch gab ich meine Seele; er ist ein Freund
Klingers, dessen
neustes Buch er mir schenkte und ich dir schicken
werde.
Klinger, sein Freund, hat eine natürliche Tochter des Fürsten (Orlof
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denk’ ich) und ist Oberster. Er preiset mein
Kampanerthal; und der
Hesperus sol den Hartknoch, wie er sagt, durch die erste
Lektüre von
Siberien errettet, nämlich ihn so erhoben haben, daß er
mit der Freiheit
für sich sprach, die ihm die seinige wieder gab. —
Jakobi’s Sohn
ehelicht Asmus Tochter. — Die Palingenesien bekomst du noch vor
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Johannis, und der Hesperus
wird jezt gebunden. —
Von Dresden wil ich noch nichts ausheben als den Abgussaal, der
sich gestern wie eine neue Welt in mich drängte und die
alte halb er
drükte. Du tritst in einen
langen lichten hohen gewölbten Saal, durch
den 2 Alleen von
Säulen laufen. Zwischen den Säulen ruhen die alten65,20
Götter, die ihre Grabes Erde oder ihre Himmelswolken abgeworfen
haben und die uns eine heilige seelige stille Welt in ihrer
Gestalt und
in unserer Brust aufdecken. Du findest da den
Unterschied zwischen der
Schönheit eines Menschen und der
Schönheit eines Gottes; jene be
wegt,
obwohl sanft, noch der Wunsch und die Scheu; aber diese ruhet65,25
fest und einfach wie der blaue Aether vor der Welt und der
Zeit und
die Ruhe der Volendung, nicht der Ermüdung blikt
im Auge und öfnet
die Lippen. So oft ich künftig über
grosse oder schöne Gegenstände
schreibe, werden diese
Götter vor mich treten und mir die Geseze der
Schönheit
geben. Leider hat so gar der gemilderte Faun Aehnlichkeit65,30
mit der Wirklichkeit, gegen die einen die affektlosen
schönen Formen ein
nehmen. Jezt kenn
ich die Griechen und vergesse sie nie wieder. —
Über die neuen Weltkugeln und Weltsonnen in der Bildergallerie
solst du noch astronomische Ephemeriden haben. — Die
Strasse von
Meissen läuft zwischen einem langen gebognen
Hügelrücken und der65,35
breiten gebognen Elbe herlich
hin. Betritst du die Dresdner Brücke, so
liegen Palläste wie Städte, vor dir, und neben dir eine
Elbe, die aus
einem weiten Reiche in das andere fliesset; ferne Berge,
Ebenen, ver66,1
lorne Schifgen, die
wandelnde Prozession der einen Brücken Seite,
die entgegengehende der andern, eine lange Allee und das
Getümmel
des Lebens ergreifen dich. —
Ich habe den Königstein und seine notanda und videnda gesehen,
und war vergnügt aber nicht ausser mir — Ich habe die
Antiken ge-
sehen, gleichsam die andere Hemisphäre
der Abgüsse, die wir gestern
wieder sahen verklärt bei
Fackeln Nachts 10 Uhr — ferner das
Naturalienkabinet — die
fürstliche heilige Familie nebst dem plat-
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gedrükten Hoftros in der kath.
Kirche an der Himmelfarthsfeier, wo
zugleich das Kind einer Prinzessin hineingetragen wurde,
das die
Trompeter taub bliesen gegen künftige Bitten. — Ich
habe dabei
meine demokratischen Zähne geknirscht, am
meisten über das gekrümte
Schwarzen-Volk von Dresdnern, die nicht schön, nicht edel,
nicht les-
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begierig, nicht kunstbegierig
sind, sondern nur höflich. — Ich reisse
mich Sonabends ab
(vielleicht ists nicht einmal nöthig) und gehe nach
Leipzig, nicht nach Dessau, weil ich so viele Freuden sat habe — Ach
ich habe keine Freiheit, das ists — Otto und Freiheit, wo
bist du sag
ich tief in mir jede Stunde. Ich habe viele
Bekantschaften gemacht,66,20
aber keine von Bedeutung.
Ach mein Guter mein Theuerer wenn ich
doch deine Gestalt
bald wieder an meiner Brust hätte. Grüsse meine
Geliebten!
Ich schrieb das heutige Pensum umringt von 4 Personen,
Berlepsch, Üchteriz etc.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Dresden, 16. Mai 1798 bis 21. Mai 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_93
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 8 S. 8°. K: Otto 20[!] Mai. J 1: Otto 2,238×. J 2: Nerrlich Nr. 38. A: IV. Abt., III.1, Nr. 61. 64,15 den] nachtr. H 17 besucht] gesucht K 19 flachen] nachtr. H 26 ungelenke] nachtr. H 32 und scheuen] nachtr. H 65, 9 das Datum steht nach 10 Tochter über der Zeile und noch einmal am Rande H 11 der] nachtr. H 12 den] nachtr. H 21 Grabes] nachtr. H 22 in ihrer] aus auf ihren H 33 neuen] nachtr. H 35 gebognen] nachtr. H 66,1 Reiche] aus Gefilde H ferne] nachtr. H Ebenen,] danach gestr. Alleen, H 2 Brücken] nachtr. H 4 dich. —] danach gestr. Ferner sah ich die herliche Bildergallerie ... H 8 die2 bis 9 Uhr] nachtr. H 9 Nachts] aus nachts H
64,24 Matzdorffs Mutter: Johanna Maria, geb. Jenschofska (1738 bis 1815); über seine Frau s. Bd. II, 464, zu Nr. 351. 25 Johann Friedrich Freiherr von Retzer (1754—1824), Wiener Schriftsteller. 29 Garlieb Merkel (1769—1850), der bekannte deutsch-baltische Kritiker, lebte damals in Weimar und wurde durch Mahlmann bei Jean Paul eingeführt, s. Persönl. Nr. 42. Karl Simon Morgenstern (1770—1852), damals Dozent der Philosophie in Halle; vgl. Bd. II, Nr. 232, und Persönl. Nr. 43. 30 Kanzlerin von Bose: vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), III.1, Nr. 57. 33 Rudolf Zacharias Becker (1759—1822), Gothaer Buchhändler, Herausgeber des Reichsanzeigers, Verf. des „Noth- und Hülfsbüchleins für Bauersleute“ (1787—98). 34 Karl Johann Konrad Michael Matthäi (1744—1830), der langjährige Begleiter der Frau von Branconi, s. Allg. Deutsche Biogr. LII, 232. 65, 1 Reichardt: s. Bd. II, Nr. 400†. 4 Zink: wohl der Dichter Friedrich Freiherr von Z. (1753—1802), der Freund Joh. Georg Jacobis. 6 Johann Hartknoch (1768—1819), Adoptivsohn und Nachfolger des Rigaer Verlegers Joh. Friedr. H.; die Buchhandlung wurde 1798 nach Leipzig verlegt. 7f. Klingers neustes Buch: „Geschichte eines Deutschen der neuesten Zeit“, Riga 1798; vgl. Otto 2,310. 10 Klinger war seit 1790 verheiratet mit Elisabeth Alexejewa, wahrscheinlich einer natürlichen Tochter des Fürsten Gregor Orlof (1734—83) mit der Fürstin Elena Stepanowna; s. Max Rieger, „Fr. Max. Klinger“, 2. Teil, Darmstadt 1896, S. 143f. 14f. Friedrich Heinrich Jacobis dritter Sohn, Max, heiratete am 16. Mai 1798 Matthias Claudius’ dritte Tochter Anna. 17ff. Vgl. I. Abt., XI, 67,5ff. (Vorschule der Ästhetik § 19) und den Aufsatz von Johannes Reiher „Jean Pauls erster Besuch in Dresden“ im Jahrbuch zur Pflege der Künste, 5. Folge, Dresden 1957, S. 75—88. 66, 11 Himmelfahrt: 17. Mai 1798. 24 Karl Sigismund Emil von Üchtritz (1754 bis 1849), sachsen-weimarischer Landkammerrat, Schwager der Berlepsch; s. IV. Abt. (Br. an J. P.), III.1, Nr. 54.