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Korrespondenz

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 19. Dezember 1797 bis 20. Dezember 1797.

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24,15
Leipzig d. 19 Dec. 97 .

Lieber Otto! Ich wil in meinen Büschingschen wöchentlichen Nach-
richten fortfahren, ob du gleich wie ein Zeitungsschreiber — der soltest
du öfters von Hof sein, da mich alle Winzigkeiten freuen würden —
sehr oft h. Feiertage hast. Deinen mir so wilkomnen Brief beantwort’24,20
ich zulezt. — Schreib mir doch einmal von deinem 〈unserem〉 geliebten
Bruder Albrecht, von seinen Prozessen und Siegen. Frege und mehrere
haben die Nachricht daß die Franzosen dem Wilhelm III. Hamburg,
Lübek, Bremen gegen seine Rheinländer angeboten, was er stolz aus-
schlug: mir gefält sein stiller Anfang. „Jezt ists wieder wie unter dem24,25
Friz“ sagen die Berliner. Bei der Riz fand man 300,000 ℔ St. in Bank-
noten, 800,000 fl. in Briefen, 66 000 fl. in Cass., 30 000 rtl. 198 000
rtl. (in einem Solitairring) 300 000 Juwelen, 51 Ctr. verarbeitetes
Silber. Ein von Wien geschikter, scheinbar verstossener Kammerherr
der mit éclat den Kammerhernschlüssel zurükschikte, bestach sie mit24,30
Versprechen des Fürstenranges, dem kaiserlichen Hofe das Portefeuille
des Königs auszuliefern, wozu sie den Schlüssel auf dem blossen Leibe
trug. Schon die Landesverrätherei köpft sie. Möllendorf hatte lange
vor des Königs Sterbefal einen geheimen Gränzkordon gegen ihr
Entweichen aufgestelt; und die Königin hatte ihr, um sie ins Land 24,35
zurükzulocken, nach Pyrmont ein brillantiertes Portrait von 20,000 rtl. 25,1
geschikt — Weisse, der 2mal bei mir war, erzählte das von Hamburg etc.
Weisse liebt mich und meine Bücher über mein Erwarten: es ist ein
himlischer Anblik, in einer 72jährigen Gestalt nur eine Dankadresse
für das vorige Leben und ein billetdoux an die ganze Menschheit zu25,5
sehen. Ich habe einmal bei ihm soupieren müssen, wo der alte und
junge D. Rosenmüller aus Erlang — ein steifer Exeget, der nicht ein
Wort mitreden kan — da waren: ein Leip[ziger] Souper ist stets ein
Gastmahl, guter Wein, Dessert, Gebaknes etc. Weissens eine Tochter ist
sehr schön — (seit einigen Jahren bin ich todt für Schönheit und nur25,10
lebendig für das Lebendige darhinter) und sehr gebildet. Sein Tisch,
seine Bibliothek, im Sommer sein Landgut, alles steht mir offen. Die
alte Weissin (Platners Schwester) ist eine frohe scherzhafte kultivierte
Hausmutter: eine alte weibliche Gestalt dringt mir jezt an die Seele,
seit ich die mütterliche unter mir sehe. Ich konte als ich mit Emanuel 25,15
zum D. Voigt fuhr, eine mitfahrende alte Pfarfrau ohne die gröste
Bewegung nicht mehr anschauen. Es giebt eine Trauer, für die die
kalte Zeit nicht die Wundärztin sondern die weiterschneidende eiserne
Jungfrau ist. — Berlepsch wolte schon vorige Woche kommen, aber
die väterliche Ratifikazion der Ehe ihrer Tochter verschob es auf diese. 25,20
Ich wurde noch von keinem Weibe so sehr und so rein geliebt wie von
dieser. Göthe ist zurük und in Weimar einsam: sie wil mir ihr langes
ihr gefallendes Gespräch mit ihm über mich erzählen und ich dir. Sie
spricht von seiner Seelen-Doublette, wovon die bessere immer vor ihr
auftrete. Nach meiner Einsicht in ihre und seine Seele gab es für ihn25,25
keine Frau weiter als diese. Die Kalb schrieb mir über die Wahl
Leipzigs einen kalten Brief, dan, als ich schwieg, einen wärmern, worin
sie mir die Lüge ihres Mannes an die Berlepsch erzählt, daß ich —
bald heirathete, und die Verlegenheit der B. über meine Zurükhaltung.
Die gute B. sezte mich wieder über mein Schweigen zur Rede. Aus25,30
Breslau zankt die Rabbinin heraus über die B. und ich wil auf sie über
ihren Mangel an Achtung für Freundinnen eines Freundes von Leipzig
hineinzanken. — Es ist wieder derselbe wiederkehrende Zufal, daß in
mein wirkliches Leben wenigstens etwas von meinem biographischen
immer komt, denn in meinen „Palingenesien“ hab’ ich eine Frau. Ach 25,35
wie lieb’ ich, wie kenn’ ich diese und ich sah doch nicht ihr Bild, be
sonders ihr körperliches Apropos!

d. 20 Dec.
26,1

Ich habe dir 1000 Dinge zu melden und wolte dir den Brief erst mit
der nächsten Post schicken: es laufe aber das Exordium voraus. Lebt
alle recht froh zu Weihnachten!

N. S. Der eine Bogen des J. gehört an Wernlein, der andre an 26,5
den weissen D. Joerdens.


N. S. sei so gut, frankiere den 1 Brief.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 19. Dezember 1797 bis 20. Dezember 1797. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_27


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 27. Seite(n): 24-26 (Brieftext) und 394-395 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 3½ S. 4°. K ohne Überschrift. J 1: Otto 2,163×. J 2: Nerrlich Nr. 31×. B: IV. Abt., III.1, Nr. 9. A: IV. Abt., III.1, Nr. 19. 24,33 lange] nachtr. H 25,2 geschikt] schikte H 3 es bis 6 sehen] Sein heiteres Gesicht ist eine Dankadresse für die Vergangenheit K 17 Es bis 19 ist.] gestr. K (vgl. I. Abt., VII, 473,27f.) eine Trauer, für die] einen Schmerz, für den K 18 nicht die] keine K die2] eine K 23 ihr gefallendes] nachtr. H 31 auf sie] aus ihr H 32 Leipzig] danach gestr. aus H

24,17 f. Der Geograph Anton Friedrich Büsching (1724—93) gab 1773 bis 1787 „Wöchentliche Nachrichten von neuen Landkarten usw.“ heraus. 22 Wohl Chr. Gottlob Frege, Bankier, Kammerrat und Stadthauptmann in Leipzig. 26ff. Friedrich Wilhelm III., am 16. Nov. 1797 zur Regierung gekommen, hatte die Maitresse seines Vaters, die zur Gräfin Lichtenau erhobene Frau des Kammerdieners Ritz, festnehmen lassen; sie erhielt aber bald wieder die Freiheit und sogar eine Pension. 33 Wichard Joachim Heinrich von Möllendorf (1724—1816), Generalfeldmarschall, Gouverneur von Berlin. 25, 6 –8 Johann Georg Rosenmüller (1736—1815), seit 1785 Professor der Theologie und Pastor an der Thomaskirche in Leipzig, vorher in Erlangen; sein Sohn Ernst Friedrich Karl R. (1768—1835), Professor der orientalischen Sprachen in Leipzig. 9 Weißens Tochter: Dorothea, s. Nr. 47†. 15f. Vgl. Bd. II, 373,32ff†. 19ff. Der betr. Brief der Berlepsch ist nicht erhalten; über die Ehe ihrer Tochter s. Bd. II, zu Nr. 666. 26 Kalb: s. IV. Abt. (Br. an J. P.), III.1, Nr. 2 und 10. 31 Rabbinin: Esther Bernard, s. Nr. 26†. 26, 5 f. Wernlein, Dr. Joerdens: s. FB Nr. 3 und 4.